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„Putin ist in seinen historischen imperialen Denkmustern gefangen“

23.08.2023

Am 24. August feiert die Ukraine ihren Unabhängigkeitstag. Ein Interview mit Historiker Martin Schulze Wessel über das Selbstverständnis der Ukraine und Putins Vorbilder.

Wenn die Ukraine am 24. August ihren Unabhängigkeitstag feiert, dauert der russische Angriffskrieg bereits eineinhalb Jahre an. Im Interview spricht Professor Martin Schulze Wessel, Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte Ost- und Südosteuropas an der LMU, über die Bedeutung des Nationalfeiertages für die Ukraine, Putins geschichtliche Vorbilder und Historiker an der Front.

Moscow. The museum diorama Tsar model in which the most recognizable venues from all corners of Russia in scale 1:87 are presented.

Im Museumsdiorama Zar Modell in Moskau werden die bekanntesten Orte aus allen Regionen Russlands im Maßstab 1:87 präsentiert.

© IMAGO / Russian Look / Komsomolskaya / Pravda

Herr Professor Schulze Wessel, vor eineinhalb Jahren sagten Sie im Interview, Putins Reden wiesen auf einen drohenden Krieg hin. Wenige Tage später marschierte er tatsächlich in der Ukraine ein. Wie weit ist Putin damit gekommen?

Martin Schulze Wessel: Putin hat die Ukraine oft als Teil Russlands bezeichnet, hatte wohl mit Kollaboration und Unterwerfung gerechnet – und sich damit gründlich verkalkuliert. Stattdessen hat er es mit einer entwickelten ukrainischen Nation zu tun, die einmütig einen Krieg zur Verteidigung ihrer Unabhängigkeit führt. Zu Putins festen Redeformeln gehört es, die Schwäche und die Dekadenz des Westens zu betonen, zwei aus sowjetischer Zeit übernommene Diskurselemente, die sich ebenfalls nicht bestätigt haben. Der Westen und speziell die deutsche Politik ist bei der militärischen Unterstützung für die Ukraine oft zu zögerlich, aber bislang gibt es eine weitestgehend einige westliche Linie gegen die russische Aggression. Damit hatte Putin vor seinem Angriff im Februar 2022 nicht gerechnet. Seine Politik folgt teilweise nicht rationalem politischem Kalkül, sondern historischen Drehbüchern: Er orientiert sich an der Rolle, die die großen Zaren wie Peter I. in der russischen Geschichte spielten, und lässt sich von diesen „Role Models“ leiten. Er instrumentalisiert Geschichte und zugleich ist er der Gefangene eines verqueren Geschichtsdiskurses aus dem späten 19. Jahrhundert.

Folgt auch seine Militärstrategie geschichtlichen Vorbildern?

Putins Kriegsführung stützt sich auf ein Geschichtsbild aus dem späten Zarenreich, auf die Idee eines sakralisierten Imperiums und einer russischen Nation, die sich über die ethnische russische Bevölkerung hinaus auch auf die Ukraine und Belarus sowie weitere „einst russische“ Gebiete erstreckt. Zu Beginn des Krieges sah Putin sich wohl als Eroberer in der Tradition eines Peter I. oder einer Katharina II.; beide führten große Eroberungskriege, die beide den territorialen Besitz Russlands erheblich erweiterten.

Was lässt Putin nun – da dieser große Schlag nicht gelungen ist – aus geschichtlicher Hinsicht weitermachen?

Von seinem geschichtlichen „Skript“ rückte er nicht völlig ab, sondern suchte sich als imperiale historische Muster einfach andere Szenen. Einige Wochen nach Kriegsbeginn, als schon deutlich war, dass der Krieg für Russland nicht nach Plan lief, hielt er eine Rede vor jungen russischen Unternehmern und Wissenschaftlerinnen und verglich seinen Krieg darin mit dem „Erobern und Befestigen“ Peters I. im Nordischen Krieg gegen das Schweden Karls XII. Auch dieser Krieg war anfangs nicht nach Plan gelaufen und begann mit empfindlichen Rückschlägen. Das historische Skript, auf das sich Putin jetzt stützt, ist gewissermaßen ein „Plan B“, wie es mein Kollege Serhii Polkhy von der Harvard University formuliert hat. Nachdem der schnelle Sieg nicht gelungen ist, setzt er auf einen langen Krieg, in dem Territorium „befestigt“ wird. Ein weiterer geschichtlicher Bezug hängt mit der Identität der Schauplätze zusammen. Seine historischen „Mental Maps“ nehmen auf die Eroberungen Katharina II. Bezug, die die nördliche Schwarzmeerküste und die Krim eroberte. Das damals „Neurussland“ genannte Gebiet stellte bereits 2014 für Russland ein strategisches Eroberungsziel dar.

Prof. Martin Schulze Wessel

© Historisches Kolleg/Stefan Obermeier,Muenchen

Vieles an diesem Krieg wird mit dem Blick auf Geschichte verständlicher. Aber kann die historische „Brille" auch täuschen?

Man darf nicht erwarten, aus der Geschichte konkrete Ableitungen auf den Verlauf des jetzigen Krieges gewinnen zu können. Zudem übersieht man, wenn man das 18./19. Jahrhundert einfach als Folie anlegt, bestimmte Dinge – etwa, dass Putin einen Vernichtungskrieg gegen die ukrainische Bevölkerung und zivile Infrastrukturen führt und sein Angriffskrieg Kriterien eines Genozids erfüllt, wenn man an die Massaker von Butscha und vielen anderen Orten, an die gezielte Zerstörung ziviler Infrastrukturen und die Entführung ukrainischer Kinder denkt. Bemerkenswert ist, dass Putin immer wieder vom Völkermord durch die anderen spricht. Schon im Kaukasuskrieg 2008 sagte er, dass die Georgier Völkermord gegen Abchasen und Osseten begehen wollten; beim ersten Angriff auf die Ukraine 2014 erhob er einen ähnlichen Vorwurf im Hinblick auf die vermeintliche Assimilierungspolitik der Ukraine gegenüber der russischen Minderheit im Donbass. Putin dämonisiert auf diese Weise die Ukraine, so wie er ihre Staatsspitze auch als faschistisch und satanisch schmäht.

Die russische Bevölkerung scheint ihm das zum Teil abzunehmen. Ist diese – für die westliche Welt schwer begreifliche – Haltung auch historisch zu erklären?

Ein Grund, warum die Russinnen und Russen nicht stärker aufbegehren, ist neben Putins zunehmend brutalen Repressionen auch die tief verwurzelte Vorstellung, dass der Westen eine Russland-feindliche Politik betreibt. Demnach agiert die Ukraine – und früher auch Polen – als verlängerter Arm des Westens, ohne eigene historische Würde und Selbstständigkeit. Für diese anti-ukrainischen Denkmuster ist die russische Gesellschaft sehr empfänglich. Mit dem Staatsfernsehen übt Putin einen umfassenden Einfluss auf die öffentliche Meinung aus. Allerdings hat der kurzzeitige Beifall der Bevölkerung von Rostow für Prigoschins Meuterei auch gezeigt, wie dünn das Eis für Putin ist.

Hat der Nationalfeiertag, an dem die Ukraine nach dem Zerfall der Sowjetunion einst ihre Unabhängigkeit deklarierte, durch die russische Invasion an Bedeutung gewonnen?

Der Wert der Unabhängigkeit ist größer geworden, weil die Ukraine hohe Opfer bringt, um sie zu verteidigen. Das heißt aber nicht, dass der Unabhängigkeitstag pompöser gefeiert wird, eher im Gegenteil. Auf Militärparaden verzichtet Selenskij klugerweise, weil das Militär, wie er sagt, andernorts gebraucht wird: an der Front. Stattdessen wurden in Kyiv die Trümmer zerstörter russischer Panzer gezeigt. Eine Siegesparade soll es nach dem Krieg, nicht im Krieg geben.

Sie selbst haben in Moskau studiert und später die Deutsch-Ukrainische Historische Kommission gegründet. Welche Auswirkungen hat der Krieg auf Ihre Zusammenarbeit mit russischen und ukrainischen Forschenden?

Mit russischen Historikerinnen und Historikern ist eine Zusammenarbeit derzeit institutionell weder möglich noch sinnvoll. Die Universitäten und Forschungseinrichtungen Russlands wurden aufgefordert, ihre Zustimmung zu Putins Kriegspolitik zu erklären, dem sind sie nachgekommen. Um vertiefte Kooperationen bemühen wir uns dagegen mit der ukrainischen Wissenschaft. Zum einen mit dem ukrainischen Exil, insbesondere mit Wissenschaftlerinnen, denn es waren ja fast durchweg Frauen, die nach Kriegsbeginn in die Bundesrepublik kamen. Mit einem Hilfsfonds, der damals hier am Historischen Seminar in kürzester Zeit aufgebaut wurde, dem deutschlandweit größten seiner Art, konnten rund 30 Wissenschaftlerinnen in München mit Stipendien und Wohnungen versorgt oder an andere Institutionen weitergeleitet werden.

Nun plant die LMU zusammen mit der Katholischen Universität Lviv die Gründung eines gemeinsamen historischen Forschungszentrums. Dass einige der dafür vorgesehenen ukrainischen Doktoranden jetzt an der Front sind, zeigt, wie existenziell Krieg und Wissenschaft zusammenhängen: Die gemeinsame Forschung, die wir vorhaben, hängt davon ab, dass diese jungen Leute lebend und gesund aus dem Krieg zurückkehren.

Prof. Martin Schulze Wessel hat seit 2003 den Lehrstuhl für Geschichte Ost- und Südosteuropas an der LMU inne. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte der Imperien in Osteuropa, ukrainische Geschichte, russische Historiographie und Geschichtsdenken, transnationale Beziehungen zwischen Ost-, Mittel- und Westeuropa, aber auch die Religionsgeschichte Ostmittel- und Osteuropas.

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