Putins Kriegsrhetorik: Scheinargumente für den Angriff
29.04.2025
Literaturwissenschaftler Riccardo Nicolosi analysiert die rhetorischen Strategien von Russlands Präsident.
29.04.2025
Literaturwissenschaftler Riccardo Nicolosi analysiert die rhetorischen Strategien von Russlands Präsident.
beantwortet Fragen der Moderatoren Alexandra Suworowa (links) und Dmitri Kulko im Dezember 2024 | © IMAGO / ZUMA Press Wire / Gavriil Grigorov / Kremlin Pool
Riccardo Nicolosi, Lehrstuhlinhaber für Slavische Philologie an der LMU, erforscht die rhetorischen Strategien, mit denen Wladimir Putin seinen Krieg gegen die Ukraine rechtfertigt. Im Interview erklärt er, welche Argumente der russische Präsident vorbringt, was seinen Redestil ausmacht und was ihn sprachlich von Donald Trump unterscheidet.
Welche Rolle spielt Wladimir Putins Rhetorik in seinem Krieg gegen die Ukraine?
Riccardo Nicolosi: Die Rhetorik spielt eine zentrale Rolle – und ist weit mehr als nur die Verpackung politischer Entscheidungen. Putins Reden sind programmatische Texte, in denen er die Leitlinien der russischen Politik formuliert. Sie geben den Ton der staatlichen Propaganda an, den andere politische Akteure und das Staatsfernsehen nur wiederholen, variieren und bebildern.
Seine Reden offenbaren dabei, wie er den Krieg aus völkerrechtlicher, historischer und geopolitischer Sicht zu legitimieren versucht.
Auf völkerrechtlicher Ebene inszeniert Putin den Einmarsch als humanitäre Intervention und als Verteidigungskrieg. Diese Argumentation wurde international als völkerrechtswidrig zurückgewiesen.Riccardo Nicolosi, Lehrstuhlinhaber für Slavische Philologie
Wie rechtfertigt er ihn?
Auf völkerrechtlicher Ebene inszeniert Putin den Einmarsch als humanitäre Intervention und als Verteidigungskrieg. Russland müsse die russischsprachige Bevölkerung im Donbass vor einem angeblichen Genozid durch die ukrainischen Streitkräfte schützen – so das zentrale Narrativ, bei dem bewusst nicht zwischen Sprache, Ethnie und Staatsangehörigkeit unterschieden wird: Wer Russisch spricht, ist aus Putins Sicht auch Russe und potenziell Bürger der Russischen Föderation.
Zugleich erklärt er den Krieg zum Verteidigungsfall: Die NATO bedrohe Russland – der Westen rücke immer näher heran, und Russland habe daher das Recht, sich zu schützen. In seiner Rede zu Beginn der Invasion am 24. Februar 2022 berief er sich dazu auf Artikel 51 der UN-Charta, der das Recht auf Selbstverteidigung im Falle eines bewaffneten Angriffs regelt. Diese Argumentation wurde international als völkerrechtswidrig zurückgewiesen.
Welche historischen Argumente führt Putin an?
Putin spricht der Ukraine ab, ein eigenständiger Staat mit historischer Legitimität zu sein. Die Idee einer ukrainischen Nation sei ihm zufolge lediglich ein Produkt der Nationalitätenpolitik der Bolschewiki, die der Ukraine und anderen sowjetischen Republiken in den 1920er-Jahren aus machtpolitischen Überlegungen kulturelle Autonomie gewährten – mit eigener Sprache, eigenen Institutionen und kulturellen Ausdrucksformen – sowie das Recht, aus der Union auszutreten. Das sei, so Putin, ein „historischer Fehler“, den es zu korrigieren gelte.
Stattdessen betont er, die Ukraine sei Teil eines größeren Ganzen: des „historischen Russland“ oder der sogenannten „russischen Welt“ (russkij mir). Dabei handelt es sich um ein weltanschauliches Konstrukt, wonach Belarus, die Ukraine und Russland kulturell und historisch zusammengehörig seien – gestützt durch russisch-imperiale Narrative aus dem 19. Jahrhundert, etwa die Vorstellung, Russen, Ukrainer und Belarussen seien ein einziges Volk. Dabei entstanden diese Narrative, gerade um die damals sich formierende nationale Identität der Ukraine zu bekämpfen.
Putin inszeniert den Krieg als Widerstand gegen eine monopolare Weltordnung, in der der Westen eine ungerechte Vormachtstellung einnehme. Russland, so seine Rhetorik, kämpfe nicht nur für sich selbst, sondern im Namen der „unterdrückten Völker“ der Welt, insbesondere im globalen Süden. In diesem Kontext gerät die Ukraine nahezu in den Hintergrund – sie wird rhetorisch zum Nebenschauplatz eines globalen Machtkampfs.Riccardo Nicolosi, Lehrstuhlinhaber für Slavische Philologie
Mit welchen geopolitischen Begründungen rechtfertigt Putin den Krieg?
Putin inszeniert den Krieg als Widerstand gegen eine monopolare Weltordnung, in der der Westen eine ungerechte Vormachtstellung einnehme. Russland, so seine Rhetorik, kämpfe nicht nur für sich selbst, sondern im Namen der „unterdrückten Völker“ der Welt, insbesondere im globalen Süden. In diesem Kontext gerät die Ukraine nahezu in den Hintergrund – sie wird rhetorisch zum Nebenschauplatz eines globalen Machtkampfs. Typische Schlagwörter dieser Rhetorik sind Begriffe wie „neokoloniale Hegemonie des Westens“.
Die Argumente, die er vorbringt, sind lediglich Scheinargumente, mit denen er einen illegitimen, furchtbaren Krieg nach innen und außen rechtfertigen will.Riccardo Nicolosi, Lehrstuhlinhaber für Slavische Philologie
hat Reden und Mitschnitte von Russlands Präsident analysiert, die alle öffentlich einsehbar seien: „Putin macht aus seinen Botschaften keine Geheimwissenschaft“, so Nicolosi. | © Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald / Vincent Leifer.
Spiegeln Putins Argumente seine wahren Beweggründe für den Krieg gegen die Ukraine wider?
Nein, das glaube ich nicht. Aus meiner Sicht hat Putin drei ganz andere Motive für diesen Krieg: Erstens geht es schlichtweg um Vergeltung für die Maidan-Revolte von 2014, er will die Ukraine dafür bestrafen, dass sie sich Russland nicht unterordnet. An der Ukraine soll ein Exempel statuiert werden, das andere ehemalige Sowjetrepubliken abschrecken soll.
Zweitens hat er mit dem Krieg die Opposition im Inneren zum Schweigen gebracht und konnte Repressionen verstärken – es gibt praktisch keinen Widerstand mehr.
Und drittens will er damit seine Macht im Ausland demonstrieren – und Russland mit Gewalt auf die geopolitische Bühne zurückbringen, obwohl es wirtschaftlich keine Großmacht ist. Die Argumente, die er vorbringt, sind lediglich Scheinargumente, mit denen er einen illegitimen, furchtbaren Krieg nach innen und außen rechtfertigen will.
Putins Ansprachen erinnern gewissermaßen an Frontalunterricht, in denen er oberlehrerhaft komplexe Zusammenhänge erklärt – oft langatmig, mit vielen Zahlen, Fakten und in technokratischem Jargon.Riccardo Nicolosi, Lehrstuhlinhaber für Slavische Philologie
In welchen Redestil verpackt Putin seine Argumente?
Seine Ansprachen erinnern gewissermaßen an Frontalunterricht, in denen er oberlehrerhaft komplexe Zusammenhänge erklärt – oft langatmig, mit vielen Zahlen, Fakten und in technokratischem Jargon. Gleichzeitig liebt Putin es, zwischendurch anschaulich und bildhaft zu sprechen. Einmal beschreibt er etwa, wie er bei einem G8-Gipfel scheinbar freundlich empfangen wurde – mit Schulterklopfen –, während die Entscheidungen längst ohne ihn gefallen waren. Dieses Bild des angeblich verratenen, betrogenen Russlands zieht sich durch viele seiner Reden.
Und dann setzt Putin – plötzlich und punktuell – eine extrem aggressive, vulgäre Sprache ein. So sprach er in einer Videoansprache von Verrätern im eigenen Land, die das russische Volk „wie Insekten ausspucken“ werde. Diese Sprache schockiert – und das ist auch sein Ziel.
Ein wichtiges rhetorisches Element ist zudem das gezielte Setzen von Schlagwörtern – darunter klassische Begriffe aus dem sowjetischen Kriegsvokabular wie „faschistische Bedrohung“ oder „Vaterländischer Krieg“. Und: Putin spricht nie ins Leere – mit seiner komplexen Rhetorik richtet er sich immer gezielt an bestimmte Gruppen, sowohl im Inland als auch international. Bewusst versucht er, an den Erwartungshorizont eines breiten Publikums anzuschließen – und dies leider nicht ohne Erfolg.
Putin richtet sich gezielt an drei Adressaten: das eigene Volk, die russischsprachige Welt und ein internationales Publikum.Riccardo Nicolosi, Lehrstuhlinhaber für Slavische Philologie
Welche Zielgruppen sind das und wie unterscheiden sich seine Botschaften an sie?
Er richtet sich gezielt an drei Adressaten: das eigene Volk, die russischsprachige Welt und ein internationales Publikum. Bei Wirtschaftsforen mit Gästen aus Afrika, China oder Südamerika etwa betont er die antiwestliche Rebellion. Das zentrale Narrativ lautet dann: „Wir kämpfen gegen den westlichen Imperialismus und Neokolonialismus.“
Spricht er hingegen am 9. Mai – dem Feiertag des Sieges über Nazi-Deutschland – zum russischen Volk, stellt er die Ukraine als neonazistischen, vom Westen gesteuerten Staat dar. Damit knüpft er an das nationale Selbstbild als Sieger über den Faschismus an – ein Motiv, das im Inland große Resonanz findet.
In seiner Kriegserklärung dagegen kombinierte er völkerrechtliche, historische und geopolitische Argumente, um alle drei Zielgruppen zu bedienen.
Welche Quellen haben Sie bei der Analyse seiner Reden einbezogen?
Die wichtigste ist die Webseite der Präsidialadministration des Kremls. Dort sind fast alle Reden Putins vollständig transkribiert – auch die frei gesprochenen Passagen. Besonders interessant sind die Mitschnitte von Diskussionsrunden, in denen Putin die Stichworte von Moderatoren als Gelegenheit zu ausschweifenden Monologen wahrnimmt.
Diese Reden und Auftritte sind also öffentlich einsehbar: Putin macht aus seinen Botschaften keine Geheimwissenschaft. Ich habe sie im russischen Original analysiert und die Passagen, die ich im Buch zitiert habe, ins Deutsche übersetzt, falls es keine deutsche Übersetzung gab. Die Zeitschrift „Osteuropa“ der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde hat einige der Reden Putins in deutscher Übersetzung veröffentlicht – übrigens eine exzellente Informationsquelle für alle Interessierten.
Seit 2014 hat Putins Kriegsrhetorik stetig zugenommen – nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ: Der Feind wurde immer weiter entmenschlicht, das Kriegsvokabular immer dominanter.Riccardo Nicolosi , Lehrstuhlinhaber für Slavische Philologie
Wie hat sich Putins Kriegsrhetorik verändert?
Da muss man zurück in das Jahr 2012 gehen, das bereits einen klaren Bruch markiert. Nach seiner Rückkehr ins Präsidentenamt reagierte Putin damals auf Massenproteste mit einer repressiven Wende – und seine Sprache wurde kriegerischer. So erklärte er, der bevorstehende Wahlsieg sei wie ein militärischer Sieg. Der Wahlkampf wurde zur patriotischen Schlacht stilisiert – und die Ukraine mit der pro-europäischen Maidan-Revolution 2014 endgültig zum Hauptfeind erklärt. Seither hat Putins Kriegsrhetorik stetig zugenommen – nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ: Der Feind wurde immer weiter entmenschlicht, das Kriegsvokabular immer dominanter.
Warum nennt er den Krieg selbst dagegen noch immer „militärische Spezialoperation“?
Das hat rhetorische Vorteile: „Spezialoperation“ klingt zunächst technokratisch, fast polizeilich – als ginge es nicht um einen Krieg, sondern um eine gezielte Maßnahme zur Wiederherstellung von Ordnung. Damit signalisiert der Begriff auch, dass es sich bei der Ukraine eben nicht um ein echtes Ausland handelt, sondern um ein „Problem“ im eigenen Einflussbereich. Es suggeriert, dass es sich um eine Art innerrussische Polizeiaktion handle – vergleichbar mit den Einsätzen gegen Oppositionelle im eigenen Land.
Zudem verweist der Begriff auf frühere „Spezialoperationen“, etwa in Tschetschenien, und stellt den aktuellen Krieg in eine vertraute Tradition. Möglicherweise spielt Putin dabei auch auf westliche Sprachregelungen an: So nannte etwa Gerhard Schröder 1999 den Kosovo-Einsatz ausdrücklich „keinen Krieg“, sondern einen „militärischen Einsatz zur Verteidigung von Menschenrechten“. Auch dort sollte eine bewaffnete Intervention rhetorisch entdramatisiert werden. Putin verweist oft auf den Kosovo-Einsatz der NATO 1999 und bezeichnet ihn als völkerrechtswidrig, wodurch der Westen in seinen Augen jede Legitimität verloren habe, Russland für seinen Angriff auf die Ukraine zu kritisieren. Dabei vereinfacht er bewusst komplexe historische Zusammenhänge. Nicht zuletzt fügt sich der Begriff „Militärische Spezialoperation“, abgekürzt SWO, hervorragend in die russische Sprachtradition ein, die als Erbe der Sowjetunion stark von Abkürzungen geprägt ist.
Putins Rhetorik ist monologisch, sie duldet keine Widerrede.Riccardo Nicolosi, Lehrstuhlinhaber für Slavische Philologie
Wie würden Sie Putins Redestil im Vergleich zu anderen – autoritären oder demokratischen – Politikerinnen und Politikern einordnen?
Der zentrale Unterschied zu demokratischer Rhetorik ist der fehlende Dialog. In Demokratien findet politische Rede im Austausch statt – es geht um Argumente, um Widerrede. Putins Rhetorik ist dagegen monologisch, sie duldet keine Widerrede. Nicht zufällig hat Putin noch nie einen Wahlkampf absolviert oder sich auf Debatten mit anderen Kandidaten eingelassen. Anders als Donald Trump etwa, der rhetorisch noch immer im permanenten Wahlkampfmodus agiert und stark über soziale Medien kommuniziert, gibt es von Putin keine Tweets, sondern nur lange klassische Reden. Er wirkt altmodisch, aber kontrolliert.
Im Vergleich zu anderen Autokraten wie Lukaschenko in Belarus dagegen fällt auf: Lukaschenko spricht flapsiger, volkstümlicher – und übernimmt gegenüber Putin fast die Rolle eines Sidekicks.
Auch von Figuren des Nationalsozialismus unterscheidet Putin sich stark: Da ging es um „totale“ Mobilisierung der Masse. Im sogenannten Putinismus ist das Gegenteil der Fall: Das Volk soll depolitisiert, ruhiggestellt werden. Putins Rhetorik funktioniert also ganz anders – ist aber keineswegs weniger gefährlich.
Riccardo Nicolosi ist Lehrstuhlinhaber für Slavische Philologiean der LMU. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der russischen Literatur und Kultur des 18. und 19. Jahrhunderts, der Rhetorik sowie der Beziehung zwischen Literatur und Wissenschaft. Jüngst erschien sein Buch „Putins Kriegsrhetorik“ bei Konstanz University Press.