Rentenreformen: Ökonom Arthur Seibold lässt die Daten sprechen
17.12.2025
Arthur Seibold, neuberufen an der LMU, untersucht Sozialversicherungssysteme aus verhaltensökonomischer Perspektive. Dafür arbeitet er mit großen administrativen Datensätzen.
17.12.2025
Arthur Seibold, neuberufen an der LMU, untersucht Sozialversicherungssysteme aus verhaltensökonomischer Perspektive. Dafür arbeitet er mit großen administrativen Datensätzen.
hat die LMU als Bachelorabsolvent verlassen und ist 15 Jahre später als Professor wieder zurückgekommen. | © LMU/Stephan Höck
Mehr als 1,8 Millionen Personen haben im vergangenen Jahr einen Rentenneuantrag gestellt. Warum sie sich gerade für diesen Zeitpunkt in ihrem Erwerbsleben entschieden haben, das ist eine der Forschungsfragen von Arthur Seibold. Der Ökonom ist seit März Professor für Finanzwissenschaft und Sozialpolitik an der Volkswirtschaftlichen Fakultät der LMU. Er hat bereits in mehreren Studien gezeigt, dass die Entscheidung, in Rente zu gehen, nicht nur von finanziellen Faktoren abhängt.
Die Neuberufung an die LMU ist für Arthur Seibold eine Rückkehr: Er hat an der LMU sein Studium begonnen und hier im Jahr 2011 einen Bachelor in Volkswirtschaftslehre erworben. Anschließend ist er an die London School of Economics gewechselt, zunächst für ein Masterstudium, und ist dann für seine Promotion dort geblieben. „Die LSE war eine super Umgebung, wo man von Spitzenforschern umgeben war. In dem Promotionsprogramm habe ich die Leidenschaft für Forschung entdeckt.“ Für seine Arbeit mit dem Titel Essays on Behavioral Responses to Social Insurance and Taxation ist er im Jahr 2019 mit dem Forschungspreis der Deutschen Rentenversicherung ausgezeichnet worden. Nach der LSE nahm Arthur Seibold im Jahr 2018 eine Juniorprofessur für Finanzwissenschaft an der Universität Mannheim an, bevor er in diesem Jahr an die LMU wechselte.
Um seine Forschungsfragen zu beantworten, arbeitet Arthur Seibold bereits seit seiner Promotion mit großen administrativen Datenmengen, etwa den Daten der Deutschen Rentenversicherung. „Das Spezifische an meiner Forschung ist, dass ich verhaltensökonomische Faktoren bei echten Entscheidungen untersuche.“ Seine Studien zeigen, dass sich Menschen etwa bei der Wahl ihres Rentenbeginns nicht an das ökonomische Standardmodell halten, wonach sie nur ihren finanziellen Vorteil optimieren. Stattdessen spielen psychologische Faktoren eine große Rolle.
Im Kontext der Rente sieht man, wie wichtig Verhaltensökonomik ist. Wenn Sie versuchen, Effekte von Rentenreformen auf Basis eines Standardmodells zu simulieren, würde man unterschätzen, wie effektiv eine Erhöhung der Altersgrenzen ist.Arthur Seibold, Professor für Finanzwissenschaft und Sozialpolitik an der Volkswirtschaftlichen Fakultät der LMU
„Im Kontext der Rente sieht man, wie wichtig Verhaltensökonomik ist. Wenn Sie versuchen, Effekte von Rentenreformen auf Basis eines Standardmodells zu simulieren, würde man unterschätzen, wie effektiv eine Erhöhung der Altersgrenzen ist“, sagt Seibold. Denn die Altersgrenzen verschieben nicht nur die finanziellen Anreize, in Rente zu gehen. „Sie verschieben langfristig auch die Normen, was das Renteneintrittsalter angeht. Und dieser zweite Faktor hat am Ende sogar größere Auswirkungen, was im Rahmen des ökonomischen Standardmodells komplett außer Acht gelassen wird.“
In Studien hat Seibold nachgewiesen, dass sich viele Menschen so stark an der Regelaltersgrenze orientieren, „dass es nicht allein mit finanziellen Anreizen zu erklären ist.“ Vielmehr werde die Altersgrenze als „normaler“ Zeitpunkt wahrgenommen, in Rente zu gehen. Durch die Analyse der Daten hat Seibold auch Peer-Effekte festgestellt: Personen orientieren sich bei ihrer Rentenentscheidung auch daran, wann Kolleginnen, Nachbarn oder Familienmitglieder aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind.
Für seine Forschung zu dieser Frage wurde Arthur Seibold 2023 mit dem Schmölders-Preis des Vereins für Socialpolitik ausgezeichnet.
Die Ergebnisse seiner Arbeit veröffentlicht Arthur Seibold nicht nur in Fachpublikationen. So ist kürzlich das Buch „Rethinking Pension Reform“ erschienen, das einen Überblick über die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Rentenreformen gibt. „Mir ist wichtig, dass man die theoretischen Diskussionen darüber, wie sich Menschen verhalten, wirklich mit konkreter Relevanz für Renten- und Sozialpolitik verbindet“, sagt Seibold.
Das Wissen um die Effektivität von Reformen ist also da – was der LMU-Ökonom aber künftig mehr vorantreiben möchte, ist die Frage nach ihrer politischen Umsetzbarkeit. „Vermutlich liegt es daran, dass Rentenreformen in der Gesellschaft unbeliebt sind. Mir ist wichtig zu verstehen, was diesen negativen Ansichten zugrunde liegt. Das ist am Ende eine interdisziplinäre Frage zwischen Ökonomie, Politik und Psychologie.“
Mir ist wichtig, dass man die theoretischen Diskussionen darüber, wie sich Menschen verhalten, wirklich mit konkreter Relevanz für Renten- und Sozialpolitik verbindet.Arthur Seibold, PrProfessor für Finanzwissenschaft und Sozialpolitik an der Volkswirtschaftlichen Fakultät der LMU
Solange diese ungelöst ist, fällt das Urteil von Expertinnen und Experten wie Arthur Seibold zu rentenpolitischen Reformen mitunter deutlicher aus, als es sich die Politik wohl wünschen würde. Die in Deutschland anstehende Reform, die steuerliche Belastung von Rentnerinnen und Rentnern zu senken, die weiterarbeiten, ist ein Beispiel für den Versuch, mithilfe finanzieller Anreize eine längere Lebensarbeitszeit zu erreichen. „Meine Forschung zeigt, dass diese Art von Reform überhaupt nicht funktioniert, weil Menschen entgegen der ökonomischen Standardmodelle eben kaum auf die finanziellen Anreize reagieren“, sagt Arthur Seibold. „Ich erwarte, dass diese Reform, wenn, dann nur sehr kleine Verhaltenseffekte haben wird. Wenige Personen werden nur aufgrund der Reform weiterarbeiten. Gleichzeitig wird diese teuer für die Regierung, weil man allen, die sowieso schon nach der Rente weiterarbeiten, die Steuervergünstigung gibt.“
Wie es besser ginge, kann Arthur Seibold auf Basis der wissenschaftlichen Forschung jedoch auch sagen: „Am Ende, so unbeliebt diese Reform auch sein mag, wird man nicht darum herumkommen, die Altersgrenze zu erhöhen, um wesentliche Effekte auf die Beschäftigung älterer Menschen zu erreichen. Wenn man eine Kernaussage aus der empirischen Forschung zu Rentensystemen der vergangenen zehn, zwanzig Jahre destillieren wollte, dann ist diese, dass Altersgrenzen sehr effektiv als Rentenreformen sind, finanzielle Anreize hingegen weniger.“
Giulia Giupponi, Arthur Seibold: Rethinking Pension Reform. CEPR Press 2024