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Speerträger auf Reisen

19.02.2015

Doryphoros hat wohl lange genug auf seinem Sockel gestanden und aus dem Fenster geschaut. Am Montag folgt der Speerträger einer ehrenvollen Einladung und geht auf Reisen – dabei hatte er als „Botschafter der Kunst“ sogar zwei Ziele zur Auswahl.

Ein Angebot von Prada ist etwas, das man nicht ausschlagen kann. Vor allem, wenn man gebeten wird, die neue Ausstellungshalle der Fondazione Prada – Pradas Kunststiftung – in Mailand zu eröffnen. Eigentlich. Wäre da nicht kurz zuvor eine E-Mail im Postfach von Archäologie-Professor Rolf Michael Schneider eingegangen, die mit den Worten „My dear Rolf“ begann. „Englisch ist eine wunderbar subtile Sprache. Normalerweise beginnen Mails mit ‚Dear‘“, schmunzelt Schneider, der mehrere Jahre in Cambridge lehrte. „Bei ‚My Dear‘ wissen Sie sofort, dass etwas im Busch ist.“ Ian Jenkins, Senior Curator des Department of Greek and Roman Antiquities des British Museum in London, fragte in dieser Mail, ob die LMU ihren Speerträger für die im März startende Ausstellung Defining beauty – the body in ancient greek artausleihen würde, erzählt Schneider. „Unsere Bronzerekonstruktion ist zum ersten Mal Mittelpunkt einer Ausstellung - im British Museum! - und wird damit neue wichtige Diskussionen anstoßen. So kam im Frühjahr 2014 der Stein ins Rollen.“

Über die Kopien zurück zum Original Der Speerträger – griechisch Doryphoros – des Bildhauers Polyklet ist eine der berühmtesten Bronzestatuen der Antike. Er ist allerdings nur in römischen Kopien aus Marmor überliefert, das Vorbild ging verloren. An dieser Stelle erklärt sich eine der Besonderheiten des Speerträgers der LMU und das damit verbundene Interesse des British Museum: Die Statue ist der Versuch, das verlorene griechische Vorbild aus römischen Kopien möglichst getreu zu rekonstruieren – eine Methode, die bis heute angewendet wird und auf Adolf Furtwängler zurückgeht, der von 1894 bis 1907 Ordinarius des Instituts für Klassische Archäologie der LMU war. „Das war damals eine sehr aufregende Zeit für meine – wenn man so will – wissenschaftlichen Vorfahren“, sagt Schneider. „Damals dachte man, man könne die verlorenen Vorbilder rekonstruieren. Natürlich war und ist die Methode der Kopienrezension sehr hilfreich, aber sie sagt uns letztlich mehr über die römischen Kopien als die verlorenen griechischen Vorbilder.“ Ursprünglich kommt die Methode aus der Sprachwissenschaft. Dort dient sie der Wiederherstellung eines Urtextes aus Unterschieden und Gemeinsamkeiten von späteren Abschriften.

Um den Speerträger des Polyklet zu rekonstruieren, kopierte der damit beauftragte Münchner Bildhauer Georg Römer zwischen 1910 und 1912 die jeweils für am besten geformt und erhalten geltenden Teile von drei römischen Kopien: Arme und Beine des Speerträgers der LMU stammen von der fast vollständig erhaltenen Statue aus Pompeji. Der Oberkörper ist nach dem Torso Pourtales in Berlin und der Kopf nach einer Bronzeherme aus der Villa dei Papiri in Herculaneum gebildet. „Ein perfektes Match von drei römischen Kopien aus unterschiedlichen Zeiten und Werkstätten bekommt man natürlich nie. Denn: besonders genaues Kopieren ist immer am Schwierigsten“, lobt Schneider die Ausführung. Die zweite Besonderheit des Doryphoros der LMU liegt darin, dass nicht Bronze in Marmor kopiert wurde, sondern Marmor in Bronze. Es gibt nur zwei Speerträger in Bronze, die quasi Zwillinge sind. Der ältere Zwilling ist heute in Warschau. „Er ist weitgehend unbekannt“, erzählt Schneider. „Aber im Mai wird er zum ersten Mal aus dem Dornröschenschlaf erweckt und zur Prada-Ausstellung nach Mailand gehen.“ Der jüngere Zwilling ist ab Montag auf dem Weg nach London.

Eine Geschichte, die wechselhafter nicht sein kann „Die Figur des Speerträgers hat auch heute für die LMU einen hohen aktuellen Wert“, sagt Schneider, der 2001 seine Antrittsvorlesung an der LMU zum Speerträger hielt. „Interessant ist vor allem seine Bedeutungstransformation.“ Der Speerträger erlebte in seinen knapp hundert Jahren eine Geschichte, die wechselhafter kaum sein könnte: Geboren im intellektuellen Milieu der LMU war die Geschichte des Doryphoros durch die kunsthistorischen Forschungen Furtwänglers geprägt. Ganz anders war die Bestimmung der jüngeren Bronze des Speerträgers von 1921. Sie diente als Mittelpunkt eines Erinnerungsmals für die gefallenen LMU-Mitglieder des ersten Weltkrieges, aufgestellt im damaligen Zentrum des Hauptgebäudes „Hier sieht man, wie anfällig eine Figur sein kann, wenn sie aus ihrem ursprünglichen Kontext gerissen wird“, sagt Schneider. „Danach kam die Zeit der Nationalsozialisten, die allerdings mit der Figur weniger anfangen konnten. Die Zerstörung des Mittelteils des Hauptgebäudes von 1944 überlebte der Speerträger wie durch ein Wunder.“

Unversehrt blieb der Speerträger jedoch nicht, er verlor seine Unterschenkel, seine Augen und seinen Speer. Erst Mitte der 50er Jahre wurde er wieder auf seinen alten Platz gestellt und hat seither weitere Bedeutungszuweisungen erfahren. Heute ist der Speerträger ‚entwaffnet‘ und als solcher der zentrale Bildschmuck des Hauptgebäudes. Sein Fehlen wird also auffallen, weil er von jetzt bis Juli im British Museum einen besonders anspruchsvollen Versuch der Annäherung an verlorene griechische Kunst veranschaulichen soll. „Er wird dort ein zentraler Teil der Ausstellung sein und direkt neben einem Original aus dem Parthenon-Westgiebel stehen“, freut sich Schneider.

Sobald er zurück ist aus London, wird der Speerträger im Münchner UniMagazin und online von seiner Reise berichten. Danach wird er wieder seinen Platz im Hauptgebäude einnehmen und das rege Leben an der LMU beobachten.

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