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Spiel mit der Identität

02.01.2020

Mimikry der Moleküle: Der Chemiker Ivan Huc baut künstliche Biosubstanzen, die den Vorbildern täuschend ähneln. Was aber einige von ihnen noch passender macht als das Original, sind die feinen Unterschiede.

Vier Bilder von mächtigen Berggipfeln hat Ivan Huc direkt nebeneinander in seinem Büro aufgehängt. Es sind Berge, die er bestiegen hat, oder fast, wie das Matterhorn, das der französische Chemiker zusammen mit seinem Vater in Angriff nahm. „Kurz vor dem Gipfel mussten wir umkehren, weil es plötzlich mitten im August zu schneien begann“, erzählt er und zeigt die Stelle oben an der Flanke des mächtigen Bergs. Dann zuckt er mit den Schultern und lacht. Ein bisschen lässt sich die Forschung von Ivan Huc mit einem solchen Gipfelanstieg vergleichen: Man hat ein Ziel vor Augen, man braucht sehr lange, um ans Ziel zu kommen, es ist eine mühsame Arbeit und man weiß nicht, welche Hindernisse einen erwarten. Die Natur ist da ein guter Lehrmeister.

Das lässt sich auch auf Ivan Hucs Arbeit als Forscher münzen. Denn hier ist die Natur sein unmittelbares Vorbild. Sein Ziel ist es, künstliche Moleküle zu schaffen, er ahmt dabei die Prinzipien der Natur nach, und das in kleinstem Maßstab und feinsten Details. Aus einfachen Bausteinen konstruiert der Chemiker, der seit 2017 an der LMU an der LMU arbeitet, mit seiner Gruppe „Biomimetic Supramolecular Chemistry“ Moleküle, die sich mithilfe einer Art Origami-Technik nach dem Abbild ihrer natürlichen Vorbilder formen lassen. Foldamere nennt er sie. „Unsere Expertise ist es, die Form solcher der Natur abgeschauter Moleküle exakt zu kontrollieren“, sagt Huc. Eine große Stärke, denn: „Die Form bestimmt hier die Funktion, das ist ein biologisches Prinzip.“ Wer die Form beherrscht, erlangt Zugang gleichsam zur Identität der Moleküle und kann sie erforschen.

„Faltung ist das mächtigste Werkzeug der Natur, jedes Biopolymer unterliegt diesem Mechanismus": Ivan Huc und Céline Douat bei der Proteinanalyse. Foto: Jan Greune / LMU

Am Anfang seiner Forscherzeit noch am Institut Européen de Chimie et Biologie in Bordeaux wusste niemand, wohin dieser Weg führen und ob es irgendwann auch verwertbare Ergebnisse geben würde. Doch Huc ließ sich nicht beirren. Er studierte das Bindungsverhalten von unnatürlichen Aminosäure-Bausteinen oder anderen reaktionsfreudigen Molekülen. Es gelang ihm, Kurven und Krümmungen aus den kleinen Einheiten zu bauen, lineare Verknüpfungen zu schaffen und die Winkel zwischen den Molekülen einzustellen. Huc begann, einfache Bausteine nach dem Vorbild der Natur zu designen. Heute nach mehr als zwei Jahrzehnten Forschung kann er mehr als 20 Bestandteile gezielt miteinander reagieren lassen. Er schuf Formen, wie die Natur sie kennt: Molekül-Ringe mit unterschiedlichem Radius oder schraubenförmige Moleküle nach dem Vorbild einer Helix. Stück für Stück entstand so eine Bibliothek reaktionsfreudiger Bausteine, die Hucs Team inzwischen nach vorher festgelegten Bauplänen zu weitverzweigten Makromolekülen zusammensetzt. „Das ist ein bisschen wie Lego-Spielen. Wir sind neugierig und schauen, was wir bauen können“, sagt Huc und lacht.

„Das Nachahmen führt zum Verstehen“

Doch die Forschung ist weit mehr als ein Spiel. Huc will über das Nachahmen komplexer natürlicher Makromoleküle wie wichtiger Enzyme oder Proteine deren Wirkmechanismen en détail verstehen. Es geht nicht um das exakte Kopieren. Im Gegenteil: Kleine Unterschiede zwischen synthetischem Molekül und Vorbild helfen den Wissenschaftlern, etwas über die faszinierenden Eigenschaften biologischer Systeme zu herauszufinden. „Es ist ein Spiel mit der Identität“, sagt Huc. Ziel ist es zu lernen, wie Enzyme an Proteinen katalytisch wirken, wie die DNA Informationen speichert, oder auch ganz generell, wie unterschiedliche Biomoleküle aneinander binden. „Das Nachahmen führt zum Verstehen“, sagt Huc. „Was man nicht nachbauen kann, versteht man auch nicht.“ Auf diesem Weg erkenne man, welche Bestandteile eines Moleküls für die Funktion wichtig sind.

Ivan Huc macht sich bei seinen Nachbauten ein grundlegendes Prinzip der Natur zunutze: das Falten. „Faltung ist das mächtigste Werkzeug der Natur“, sagt Huc. „Jedes Biopolymer unterliegt diesem Mechanismus.“ Es kann sich selbst falten, automatisch nimmt es seine vorgegebene, stabile Struktur ein, sobald es in der Zelle produziert wird. „Die bemerkenswertesten selbstorganisierenden Moleküle sind Proteine mit ihren speziellen Faltmustern“, sagt Huc. In ihrer Vielfalt halten sie den gesamten menschlichen Stoffwechsel in Gang. Sie regulieren den Insulinspiegel ebenso wie das Immunsystem oder die Bindung des Sauerstoffs im Blut. Nach genetischen Bauplänen, die auf der DNA gespeichert sind, bauen sogenannte Ribosomen in den Zellen, molekulare Fabriken, die selbst Konglomerate von Proteinen und dem Erbmaterial RNA sind, andere Proteine zusammen. Ein fertiges Protein ist letztlich eine Kette von Aminosäuren mit einer speziellen räumlichen Struktur, die vorwiegend auf dem Prinzip der Faltung basiert. Indem Huc also Proteine nachbaut, untersucht er die natürlichen Faltungen, ihre räumliche Geometrie und die damit verbundenen Funktionen. „Krankheiten hängen mitunter mit defekten Proteinfaltungen zusammen“, sagt der Chemiker. Versteht man die Faltung, versteht man auch, wo und warum Fehler entstehen könnten und wie sie zu vermeiden wären.

In seinem Büro am LMU-Campus in Großhadern hat Huc ein etwas seltsam wirkendes Gebilde aus einfachen Edelstahlscharnieren aus dem Baumarkt auf dem Schreibtisch liegen. Mit einem Schraubenschlüssel hat der Chemiker sie zusammengefügt, kleine Schräubchen verbinden die Scharniere. „Auch die Natur arbeitet mit einer solchen Mischung aus festen und flexiblen Verbindungen“, sagt Huc. Letztlich bestimmen nur wenige Winkel und Faltungen die endgültige Form. Der Chemiker zieht an einem Ende der Kette, klappt einzelne Scharniere um und schon entstehen gewundene Strukturen. Mühelos kann er die Edelstahlscharnierschnur zu einem verwinkelten Protein oder sogar einer Helix formen. Klappt nur ein Scharnier um, ändert sich die komplette räumliche Form. „Prinzipiell gibt es unzählig viele mögliche Faltungen“, sagt Huc. Doch die Natur setzt auf spezielle Formen, die die Moleküle jeweils automatisch einnehmen.

Das Tricksen mit den Imitaten

Huc interessiert sich bei seiner Nachahmung vor allem für das Rückgrat wichtiger natürlicher Strukturen, beispielsweise für die so wichtige DNA-Doppelhelix, aus der das genetische Material in jeder Zelle besteht. „Die DNA wird ständig durch Proteine manipuliert, dieses Verhalten entscheidet beispielsweise, ob bestimmte Gene in einem Lebewesen aktiviert werden oder nicht“, erklärt Huc. Um zu wirken, müssten Proteine die DNA erkennen können, vor allem die räumliche Struktur und die Eigenheiten der Oberfläche. Manche Proteine ahmten hier sogar die Doppelhelix der DNA nach und tricksten ihrerseits andere Proteine aus, die normalerweise an die DNA binden. Genau dieses Prinzip ahmte nun Huc mit seinen Foldameren nach. „Wir können also mit Imitaten der DNA ebenso andere Proteine austricksen“, sagt Huc.

Vor Kurzem gelang ihm in Experimenten genau das, ein wichtiger Erfolg, der das immense Potenzial der synthetischen Moleküle zeigt. Seine Gruppe konnte nicht nur die Struktur einer DNA-Doppelhelix, sondern auch Eigenschaften der Oberfläche imitieren und damit sogar Viren blockieren. Huc nutzte dafür an die Grundstruktur der Doppelhelix angefügte negativ geladene Bausteine an. Allerdings trugen diese Anhängsel jeweils eine doppelt negative Ladung, nicht wie die Phosphat-Gruppen an der natürlichen DNA eine einfache Ladung. Solch geringfügige Veränderungen legen häufig die funktionellen Eigenschaften ganzer Moleküle fest.

Das Ergebnis der Experimente war verblüffend: Offenbar war es für das Andocken von Proteinen unerheblich, wie die chemische Zusammensetzung der geladenen Einheiten nun genau aussah, so Huc. Einige Proteine koppelten sogar an die künstlichen DNA-Imitate, auch wenn natürliche DNA-Moleküle sozusagen als Konkurrenz in der Lösung waren. Huc konnte so in seiner in Nature Chemistry veröffentlichten Studie zeigen, dass seine DNA-Imitate so gut waren, dass zwei Enzyme, die pharmazeutisch wichtige Ziele sein könnten, an die falsche DNA banden und so blockiert wurden. Eines davon war die HIV Integrase, durch die das HI-Virus sein Genom in die Wirtszelle einschleust.

Die feinen Unterschiede

Für diese „Täuschung“ mussten Hucs Nachbauten die Natur quasi übertreffen: „Wenn die Enzyme auch unter konkurrierenden Bedingungen an das Foldamer binden sollen, muss das Imitat besser sein als das Original“, sagt Huc. Tatsächlich war die Bindung der HIV Integrase an das Foldamer stärker als an die DNA selbst. „Obwohl das Design auf die Ähnlichkeit zur DNA abzielt, verdankt das Foldamer seine wertvollsten Eigenschaften gerade seinen Unterschieden zur DNA.“ Damit könnte Hucs Forschung neue therapeutische Ansatzpunkte eröffnen.

Prinzipiell scheinen die Möglichkeiten seiner Forschung nahezu unbegrenzt. Doch Huc hat nicht nur gelernt, wie beim Bergsteigen kleine Schritte zu machen, was übertragen auf seine Forschung heißt, ein großes Problem in kleine Detailfragen zu unterteilen, wie er sagt. Er musste auch erkennen, dass die Geschwindigkeit des Fortschritts begrenzt ist. „In der synthetischen Chemie haben wir ein großes Know-how und gleichzeitig ist sie unser Flaschenhals“, sagt der Chemiker. „Wir können vieles bauen, aber es ist immer noch weitgehend Handarbeit im Labor – und das dauert.“ In Image-Filmen oder auch in manchen wissenschaftlichen Arbeiten sieht es so aus, als sei man völlig mühelos zum Ergebnis gekommen. Man mixt irgendwelche Flüssigkeiten mit den richtigen Bausteinen zusammen, suggeriert die Präsentation, und wie durch Magie faltet sich das richtige Molekül. „Tatsächlich können wir bislang mehr als 20 molekulare Bausteine gezielt miteinander verbinden“, sagt Huc. „Hier schieben wir die Grenze allerdings beständig weiter hinaus.“ Seine Aufgabe als Gruppenleiter sei es, das alles im Blick zu behalten, zu strukturieren und auf eine gemeinsame Idee auszurichten. „Das gesamte Team hämmert bei uns auf den gleichen Nagel“, sagt Huc. „Das ist bei vielen Forschergruppen anders, die parallel verschiedene Wege gehen.“

Der französische Chemiker versucht, die technischen Entwicklungen auf dem Gebiet der Synthese voranzutreiben. Huc erzählt von einer Maschine, die Aminosäuren nach Bauplan zusammenbauen kann. „Sie ist aktuell noch nicht schneller als ein Labormitarbeiter“, sagt Huc. „Aber sie muss nicht schlafen.“ Er lacht. Damit will Huc künftig Moleküle schneller nachbauen.

In den Fokus der Forschung gerät dabei auch Biopolymere, die in der Natur eine wichtige Rolle spielen: Polysaccharide. Wie funktionieren solche Zucker in biologischen Systemen? Und warum entfalten bestimmte Zuckermoleküle ihre Wirkung, aber andere nicht, obwohl sie chemisch sehr ähnlich sind? Zucker zu erkennen und zu unterscheiden, könnte helfen, solche Fragen zu erforschen. In seiner Arbeitsgruppe hat Huc im vergangenen Jahr ein künstliches Molekül entwickelt, das Zuckerbindungen erkennt und bindet. Es ist eine Art spiralförmige Kapsel, die gezielt ein bestimmtes Zuckermolekül einfangen und komplett umhüllen kann, die sogenannte Xylobiose, ein Disaccharid oder Zweifachzucker. Damit haben die Forscher auch einen spezifischen Rezeptor geschaffen, der Zucker erkennen kann. Derzeit arbeiten sie im Labor daran, dass dieser Mechanismus auch in wässrigen Lösungen funktioniert. Dann wäre der Weg zu einer Anwendung frei: Die spiralförmigen Rezeptoren können in lebenden Systemen als Sensoren Saccharide finden und binden.

Möglicherweise liegt hier eine Anwendung von Hucs Grundlagenforschung. Das Rüstzeug jedenfalls liegt in seinem molekularen Mimikry-Baukasten, mit dem er Form und Oberflächeneigenschaften wie die Ladung täuschend echt nachahmen kann. Huc weiß, dass er trotz aller Verlockungen der möglichen erreichbaren Gipfel hier langsam vorgehen muss. „Wir dürfen nicht überdesignen“, sagt Huc. Die Berggipfel in seinem Büro erinnern ihn daran.

Prof. Dr. Ivan Huc ist Inhaber des Lehrstuhls „Chemical Biology for Drug Research“ am Department für Pharmazie der LMU. Huc, Jahrgang 1969, studierte Chemie an der Ecole Normale Supérieure (ENS), Paris. Seinen Ph.D. machte er an der ENS und am Massachusetts Institute of Technology (MIT), Cambridge, USA. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Université Louis Pasteur in Strasbourg, Frankreich. Danach forschte Huc am Institut Européen de Chimie et Biologie (IECB) in Bordeaux. Später war er dort Co-Direktor, ebenso am Institut de Chimie & Biologie des Membranes & des Nano-objets, Bordeaux, bevor er 2017 an die LMU kam.

Der Text ist der aktuellen Ausgabe des LMU-Forschungsmagazins Einsichten entnommen:

„Wer ich bin“ – ein Heft über Identitäten: Die Politikwissenschaftler Astrid Séville und Karsten Fischer zeigen, was populistischen Bewegungen Aufschwung verleiht, die vorgeben, den „Volkswillen” zu vertreten und so Identität zu stiften. Der Psychologe Frank Niklas und der Ökonom Fabian Kosse analysieren, wie ungleiche Bildungschancen das spätere Leben prägen. Der Mediziner Alexander Korte und die Soziologin Paula-Irene Villa Braslavsky sprechen über die steigende Zahl transsexueller Jugendlicher. Und die Philosophin Ophelia Deroy erforscht, wie der Mensch sich mit allen seinen Sinnen seiner selbst in der Welt versichert.

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