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Thema „Deutungskämpfe“: Historikertag in München

18.06.2021

Er gilt als der größte geisteswissenschaftliche Kongress Europas: der Historikertag. Im Oktober findet er an der LMU statt – großenteils digital. Ein Gespräch mit den Veranstaltern.

Heilige Stätten in Jerusalem

Israel steht im Zentrum historischer und politischer Deutungskämpfe. Heilige Stätten in Jerusalem | © IMAGO / Winfried Rothermel

Eigentlich sollte der 53. Deutsche Historikertag schon im vergangenen Jahr stattfinden. Doch dann kam die Pandemie, der Kongress musste verschoben werden. Für dieses Jahr haben die Veranstalter vom Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD), dem Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) und der Universität München, die Großveranstaltung, die zwischen dem 4. und 8. Oktober stattfindet, weitgehend in den virtuellen Raum verlegt. Im Interview berichten Dr. Denise Reitzenstein und Professor Martin Zimmermann (LMU) sowie VHD-Vorsitzende Professor Eva Schlotheuber über Planung, Ausrichtung und Programm des digitalen Kongresses, der diesmal unter dem Motto „Deutungskämpfe“ steht.

Vor welche Herausforderungen sind Sie bei der Planung gestellt?

Zimmermann: Als wir im vergangenen Frühjahr vom ersten Lockdown überrascht wurden, war der Historikertag für den September 2020 im Grunde genommen fertig vorbereitet – als Präsenzveranstaltung. Der gesamte Kongress mit insgesamt 450 Vorträgen stand, es gab sogar schon ein Programmheft. Eine der größten Aufgaben, die dann zunächst anstand, war, die Finanzierung auch für 2021 zu sichern. Der Kongress trägt sich nicht vollständig durch die Teilnehmergebühren, man muss von Kosten von rund einer halben Million Euro ausgehen. Wir wurden 2020 dabei von Stiftungen, aber auch von der LMU gefördert. Sie hat mich als Sprecher unterstützt und generös unter anderem eine ganze Geschäftsführungsstelle eingerichtet. Und bei der Umstellung auf ein digitales Format war sie sofort wieder mit im Boot und hat die Stelle um ein Jahr verlängert. Bei der Gestaltung der Kongressplattform war uns das Congress Center der LMU eine große Hilfe, dessen erfahrene Mitarbeiterinnen im Anfang wöchentlich konkrete Tipps und Hinweise gegeben haben.

Reitzenstein: Zunächst waren wir noch optimistisch, dass der Historikertag in diesem Jahr als Präsenzveranstaltung möglich wäre. Im Lauf der zweiten Jahreshälfte 2020 aber zeichnete sich ab, dass auch daraus nichts werden konnte. Im Dezember dann haben wir mit allen Beteiligten entschieden, dass der Kongress vor allem digital stattfinden soll. Die hybriden Anteile lassen uns zumindest das Hintertürchen offen, dass wir bei einer günstigen Entwicklung der Pandemie auch Präsenzanteile, wenn auch in abgespeckter Form, integrieren können.

Was bedeutet so eine Planung im Detail?

Reitzenstein: Wir haben rund 160 Einzelveranstaltungen geplant. Wir haben 450 Referentinnen und Referenten, die allein in den 100 Fachsektionen, den thematischen Einzelveranstaltungen mitwirken. Jede einzelne will vorbereitet sein. Allein am Dienstag, dem ersten richtigen Konferenztag, werden rund 65 Veranstaltungen stattfinden. Für jede müssen wir ein Webinar einrichten, das dann im Hintergrund auch technisch begleitet werden muss, damit die Teilnehmenden sich reibungslos über die digitale Konferenzplattform einwählen können. Ausgewählte Programmpunkte wollen wir in Präsenz in der Großen Aula der LMU abhalten, aufzeichnen und streamen. Jeder, der sich einwählt, hat auch die Möglichkeit, Fragen an das Podium zu richten. Außerdem können sich auf der Plattform Fachaussteller präsentieren, es gibt eine digitale Bibliothek, in der Interessierte in Neuerscheinungen stöbern können, und virtuelle Meetingräume mit Videofunktion, die 1:1-Gespräche ermöglichen und so einen Hauch von persönlicher Begegnung schaffen sollen.

Wieviel persönlichen Austausch lässt ein digitales Format zu?

Schlotheuber: Der Historikertag ist natürlich immer auch ein Treffen der Community. Das Fach verständigt sich, das ist eine ganz wichtige Funktion des Kongresses. Der Fachaustausch wird sicher sehr gut funktionieren, aber natürlich wird die persönliche Begegnung fehlen.

Zimmermann: Man muss immer im Hinterkopf haben, dass der digitale Historikertag aus der Not geboren ist. Wir haben versucht, eine perfekte Konferenzplattform zu schaffen, die eben auch den 1:1-Austausch zumindest im virtuellen Raum möglich macht. Aber man darf auch einen entscheidenden Vorteil nicht vergessen: Die digitale Plattform ermöglicht eine viel größere Reichweite. Weit mehr Interessierte als bisher können teilnehmen, weil die Reise- und die Hotelkosten wegfallen. Und vor allem auch Studierende der Geschichte haben die Möglichkeit, für einen geringen Beitrag eine Woche lang Vorträge zu hören.

Der Kongress steht unter dem Motto „Deutungskämpfe“. Inwiefern beschreibt dieser Begriff den Zustand der Gesellschaft besonders treffend? Wo zeigen sich solche Konflikte aktuell besonders deutlich?

Schlotheuber: Im Moment kann man an vielen Beispielen sehen, wie Demokratien unter Druck geraten. Öffentliche Diskurse sind immer schwerer zu führen, dabei ist sie gerade für demokratische Gemeinwesen der Prozess der Selbstverständigung existenziell. Man muss nur an die Debatte um Fake News denken, um zu ermessen, welche Rolle Deutungskämpfe dabei haben. Es wird natürlich nicht einfacher, wenn eine Gesellschaft nicht mehr gut darauf verständigen kann, was Wahrheit ist oder welche Rolle wissenschaftliche Erkenntnisse spielen. Ich finde, dass die Covid-Debatte dafür ein gutes Beispiel ist. Welche Rolle kann die Wissenschaft einnehmen? Wie kann der Kreis derjenigen, die entscheiden, zusammengesetzt sein? Ein weiteres Beispiel für aktuelle Deutungskämpfe sind die Diskussionen um die Kirche und die Missbrauchsfälle. Das Rücktrittsangebot von Kardinal Reinhard Marx und das Nein aus Rom zeigen, was in der Öffentlichkeit ausgehandelt wird: Wie wichtig ist uns die Aufarbeitung? Welche Stellung hat die Kirche? Wie weit gehen die Eingriffsrechte des Staates in dieser Sache?

Zimmermann: Nachdem der letzte Historikertag in Münster vor drei Jahren die Spaltung der Gesellschaft zum Thema hatte, schließt das Motto Deutungskämpfe in gewisser Weise daran an. Man assoziiert mit diesem Begriff Auseinandersetzungen, die durchaus mit harten Bandagen ausgetragen werden. Ein wichtiges Signal, das von diesem Historikertag und seinem Bemühen um geschichtliche Einordnung ausgeht, könnte sein, dass sich solche Kämpfe auch wieder angemessenen Kommunikationsformen zuführen lassen.

Reitzenstein: Zusammen mit dem dritten Veranstalter, dem Geschichtslehrerverband, haben wir jeweils ein Programm für Geschichtslehrkräfte sowie für Schülerinnen und Schüler erarbeitet und sprechen auch die spezifischen Probleme solcher Deutungskämpfe an, die in der Geschichtsvermittlung und im Geschichtsunterricht an Schulen entstehen. Es gibt Workshops zu Themen wie Extremismus in der Schule und zu Rassismus und Diskriminierung im Sport gerade mit Schulklassen.

Das Partnerland des Historikertages ist Israel. Welche zentralen Anknüpfungspunkte sehen Sie da bei der Frage nach den Deutungskämpfen?

Schlotheuber: Das Partnerland Israel mit seiner besonderen geopolitischen Lage steht wie kaum ein anderes Land im Zentrum existenzieller historischer und politischer Deutungskämpfe. Israel hat eine vielschichtige Geschichte, eine bis weit in die Antike zurückreichende multiethnische Gesellschaft. Gerade jetzt erleben wir einen großen Umschwung in Israel, Netanjahu ist abgewählt, eine Koalition ideologisch höchst unterschiedlicher Kräfte wird das Land regieren. Das wird sicher Rückwirkungen auf die gesamte Region haben. Davor hatten wir den Wechsel von Trump zu Biden, der für den Nahostkonflikt auch eine ganz entscheidende Rolle spielt. Auf dem Kongress wollen wir das mit den Gästen und Teilnehmern aus Israel mit historischer Tiefe reflektieren. Ohne die langen historischen Linien zu kennen und ausmessen zu können, sind die Konflikte in der Region nicht zu verstehen.

Zimmermann: Die Idee, Israel als Partnerland gerade für einen Historikertag in München zu wählen, hat natürlich mit diesem besonderen Standort zu tun: mit der Stärke der Jüdischen Geschichte an unserer Universität, mit dem Generalkonsulat, mit der Israelitischen Kultusgemeinde und dem NS-Dokumentationszentrum auf der einen Seite, natürlich aber auch mit der besonderen Geschichte dieser Stadt im Nationalsozialismus.

Sie haben jetzt das Programm des Kongresses veröffentlicht. Welche Highlights bietet es?

Schlotheuber: Sozusagen in eigener Sache feiern wir natürlich den 125-jährigen Geburtstag des Verbandes – und zwar mit einer szenischen Darstellung der Verbandsgeschichte! 125 Jahre in 20 Minuten, da können wir gespannt sein.

Zimmermann: Wir haben aus den Akten der Verbandsgeschichte Texte ausgewählt. Sapir Heller, eine junge Regisseurin mit israelischen Wurzeln, wird zusammen mit Schauspielern des Münchner Volkstheaters an den Texten arbeiten.

Schlotheuber: Besonders freue ich mich auf den israelischen Schriftsteller David Grossman, der zu einer Lesung mit Fragerunde kommen wird. Dabei soll das spannungsreiche Verhältnis zwischen Israel und seinen Nachbarn aus der literarischen Verarbeitung heraus thematisiert werden. Ein Thema, das vor allem für Forscherinnen und Forscher mit befristeten Arbeitsverhältnissen brennend ist, ist die Situation von Archiven und Bibliotheken während der Pandemie. Viele der befristeten Projekte konnten nicht abgeschlossen werden, weil Bibliotheken und Archive nicht zugänglich waren. Daran schließt sich die Frage nach der Digitalisierung an, wie kann und sollte es nach Covid weitergehen? So gibt es beispielweise eine Initiative, die vom Verband ausgegangen ist, um im Rahmen der geplanten Nationalen Forschungsdaten-Infrastruktur NFDI mit nfdi4memory eine Konzeption für Historiker, Archive und Bibliotheken auf den Weg zu bringen.

Zimmermann: Was man aber ausdrücklich hervorheben muss, ist die immense Vielfalt von Veranstaltungen auf der Konferenz. Sie zeigt, welch große Resonanz das Thema auch in der Scientific Community findet. Ich finde es ungemein spannend, bei wie vielen Themen, in wie vielen Epochen, mit wie vielen Bezügen sich der Kampf um Deutungshoheit finden und analysieren lässt. So dass man in diesen Tagen wirklich hin und her wandern kann zwischen den Sektionen und staunen kann, welche Perspektiven sich da auftun.

Reitzenstein: Es ist tatsächlich eine ungeheure Vielfalt von Themen. Das Programm ist so dicht gedrängt, dass zum Teil bis zu zwölf der Einzelveranstaltungen parallel laufen. Da haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dann die Qual der Wahl. Ich persönlich freue mich besonders auf eine Sektion aus der Alten Geschichte, die Perspektiven und Herausforderungen der israelisch-palästinensischen Zusammenarbeit in den Altertumswissenschaften beleuchtet.

PD Dr. Denise Reitzenstein ist Althistorikerin an der LMU und Geschäftsführerin des 53. Deutschen Historikertages.

Prof. Dr. Eva Schlotheuber ist Inhaberin des Lehrstuhls für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Düsseldorf und Vorsitzende des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD).

Prof. Dr. Martin Zimmermann ist Inhaber des Lehrstuhls für Alte Geschichte an der LMU und Sprecher des 53. Deutschen Historikertages.

Das Programm und Informationen zur Anmeldung finden Sie auf den Seiten des Historikertages.

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