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„Tonio Kröger ist in Japan ein Dauerbrenner“

17.11.2025

Warum Thomas Mann in Japan so beliebt ist und wo sich seine literarischen Spuren in Schwabing finden, erzählt der Germanist und LMU-Alumnus Yasumasa Oguro. 

Der Zauberberg und Doktor Faustus als Apokalypse, Spaziergänge auf Manns Spuren am Nordfriedhof und junge japanische Autoren, die ihm Buchkapitel widmen: Im Thomas-Mann-Jahr spricht Yasumasa Oguro, Professor für Germanistik an der Universität Kyushu und LMU-Alumnus, über die anhaltende Beliebtheit des deutschen Schriftstellers in Japan.

Herr Professor Oguro, Sie sind Germanist und Thomas-Mann-Experte. Was brachte Sie zur deutschen Literatur?

Schon als Gymnasiast interessierte ich mich für deutsche Philosophie – für Kant, Schopenhauer und Nietzsche. Deshalb wählte ich Deutsch im Grundstudium – damals als zweite Fremdsprache sehr beliebt, während heute Chinesisch und Koreanisch Favoriten sind. In meinem Philosophie-Studium an der Universität Hokkaido in Sapporo war Deutsch anfangs nur Mittel zum Zweck, doch bald faszinierten mich Sprache und Literatur sogar mehr als die Philosophie. Am Ende meines Grundstudiums, also am Ende des zweiten Semesters, entschied ich mich deshalb für das Hauptfach Germanistik. Für mich war das wie ein Fenster in eine andere Welt – das ich unbedingt weiter öffnen wollte.

Porträt von Professor Yasumara Oguro in einem blauen Hemd vor einem Bücherregal, das zahlreiche Bücher in grünen und weißen Einbänden zeigt. Im Vordergrund sind zwei Bücher von Thomas Mann zu sehen, eines mit einem Bild von ihm auf dem Cover. Der Mann trägt Brille und blickt in die Kamera.

Der Germanist und Thomas-Mann-Experte Yasumasa Oguro forscht an der Kyushu University im japanischen Fukuoka. Er ist zudem Präsident der Japanischen Gesellschaft für Germanistik.

© privat

Wie kamen Sie dann zu Thomas Mann?

Als ich am Ende meines sechsten Semesters ein Thema für die Abschlussarbeit finden musste, dachte ich zuerst an österreichische Literatur. Doch dann las ich – eher zufällig – Tonio Kröger und kurz darauf Der Zauberberg. Diese Lektüre war ein Schlüsselerlebnis. Ich war fasziniert von den Figuren, den Spannungen zwischen Leben und Kunst, Bürgerlichkeit und Künstlerexistenz. Mein Betreuer, Professor Aoyagi, war selbst ein ausgewiesener Thomas-Mann-Kenner und hatte den Briefwechsel zwischen Mann und Hermann Hesse ins Japanische übertragen. So wurde Thomas Mann mein Thema – und ließ mich nie wieder los.

Welche Aspekte seines Werks sprechen Sie an?

Es sind vor allem seine Motive. Meine Promotion habe ich über das Thema der „Apokalypse“ bei Thomas Mann geschrieben. Es prägt unverkennbar den Doktor Faustus, ist aber auch im Zauberberg präsent. Den Selbstmord des lebenshungrigen Peeperkorn darin nenne ich die „kleine Apokalypse“ – ein Zusammenbruch, der die Figuren erschüttert. Im Doktor Faustus findet sich in der erschütternden Echo-Szene eine „große Apokalypse“, in der der Untergang einer ganzen Epoche spürbar wird.

Zwischen beiden Passagen gibt es für mich eine strukturelle Analogie: Krisen, die wie Vorboten des Endes wirken, literarisch aber eine neue Dimension eröffnen. Diese Muster von Untergang, Krise und Neuanfang interessieren mich nicht nur literarisch, sondern auch im Blick auf die europäische Geschichte. Später habe ich weitere Monographien veröffentlicht, zuletzt wieder zu Thomas Mann, weil dieses Thema für mich nie an Faszination verliert.

Welches ist heute Ihr Lieblingsbuch?

Der Zauberberg hört für mich nie auf, Neues preiszugeben. Jedes Mal entdecke ich etwas, das mir zuvor entgangen ist. Aber auch die frühen Erzählungen wie Der Weg zum Friedhof oder Der kleine Friedemann lese ich immer wieder mit Gewinn. Ein besonderes Erlebnis war es, in München endlich Joseph und seine Brüder vollständig zu lesen – in Japan war mir das trotz großer Mühe nicht gelungen. Vielleicht hatte ich dort einfach nicht die nötige Ruhe und Zeit.

Welche Erinnerungen haben Sie sonst an Ihre Zeit in München?

Nach vier Jahren Studium in Sapporo setzte ich 1989 mein Studium an der Universität Kyushu in Fukuoka fort. Nach meinem Masterabschluss begann ich 1991 mit meiner Promotion und kam 1992 für vier Jahre nach München, um an der LMU weiter Germanistik zu studieren. Zuerst wohnte ich im Johannes-Kolleg, einem Studierendenwohnheim nahe dem Hohenzollernplatz. Dort lernte ich insbesondere viele asiatische Kommilitoninnen und Kommilitonen kennen – aus China und Korea –, was meinen Blick sehr geöffnet hat.

In Japan sah ich mich immer als „Japaner“. In München merkte ich plötzlich: Ich bin auch Teil einer größeren asiatischen, ja internationalen Gemeinschaft. Später habe ich in einer WG in der Nähe der Goethestraße gelebt und am Japan-Zentrum unterrichtet – acht Kurse pro Woche! Es war eine intensive, sehr prägende Zeit.

Auch Thomas Mann lebte einst in München. Sind Sie seinen Spuren gefolgt?

Ja, unbedingt. Ich spazierte oft durch Schwabing, von der Schellingstraße über die Ludwigstraße bis zum Odeonsplatz – genau jene Wege, die Thomas Manns Novelle Gladius Dei beschreibt. Besonders eindrücklich war für mich außerdem der Nordfriedhof. In Der Tod in Venedig lässt Thomas Mann Gustav Aschenbach dort einer unheimlichen Gestalt begegnen – woraufhin er den Entschluss fasst, nach Venedig zu reisen.

Ich suchte dort nach zwei „apokalyptischen Tieren“ aus Stein, die Mann beschreibt, und fragte sogar den Friedhofwart – vergeblich. Als ich viele Jahre später zurückkehrte, entdeckte ich tatsächlich zwei Sphinx-Figuren am Eingang. Nicht identisch mit Manns Beschreibung, aber eine schöne Entdeckung. 2018 besuchte ich außerdem „Villino“, das Sommerhaus Manns in Feldafing am Starnberger See – als letzter offizieller Gast, bevor es als Museum geschlossen wurde. Das war für mich fast symbolisch.

Inwieweit kam Thomas Mann selbst mit Japan in Berührung?

Er war zwar nie selbst dort, aber über seine Frau Katia gab es eine indirekte Verbindung: Ihr Zwillingsbruder Klaus Pringsheim war Professor für Musikwissenschaft in Tokio. Über ihn erhielt Mann Einblicke in das Land und seine Kultur und schien sehr daran interessiert. Nach dem Krieg verfolgte er aufmerksam die politische Situation in Japan. Und er hatte fest vor, nach Japan zu reisen, auch wenn es nie dazu kam.

Welche Resonanz erfährt Thomas Mann in Ihrer japanischen Heimat?

Nach wie vor eine sehr große. Der Zauberberg liegt in sieben Übersetzungen vor; Tonio Kröger ist seit den 1920er-Jahren ein Dauerbrenner und wurde sage und schreibe 17 Mal ins Japanische übersetzt. Ich selbst habe die 17. Übersetzung angefertigt; dass sie sogar in der deutschen Presse besprochen wurde, ist für mich eine große Ehre.

Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe für die große Resonanz seines Werks?

Zum einen sind seine Themen – Identität, Bildung, Kunst, Krankheit, Tod – universell. Dann spricht gerade das Bildungsroman-Motiv viele Japaner an, weil auch bei uns Bildung und Karriere eng miteinander verknüpft sind. Und nicht zuletzt glauben viele meiner Landsleute, die japanische und deutsche Mentalität seien ähnlich – beide Völker fleißig, pflichtbewusst, ernsthaft. Diese Nähe zum Selbstbild hat sicher zur Rezeption beigetragen – auch wenn ich festgestellt habe, dass die Deutschen auch sehr gerne Urlaub machen (lacht).

Gibt es japanische Autoren, die Sie mit Thomas Mann vergleichen würden oder die von ihm inspiriert sind?
Ja, durchaus. Yukio Mishima etwa, einer der bekanntesten Schriftsteller Japans, las schon als Schüler begeistert deutsche Literatur. In seinen Werken spürt man dieselbe Spannung zwischen Tradition und Moderne, Leben und Kunst. Jüngere Autoren greifen diese Verbindung ebenfalls auf: Keiichiro Hirano hat in seinem Künstlerroman sogar ein Kapitel „Venedig-Syndrom“ genannt – eine direkte Hommage an Mann. Und selbst die jüngste Generation zeigt großes Interesse: Der 2001 geborene Yui Suzuki, Gewinner des renommierten Akutagawa-Preises, beschäftigt sich intensiv mit Goethe und Thomas Mann. Übrigens ließ sich auch der weltberühmte Haruki Murakami von Manns Der Zauberberg beeinflussen, als er seinen Roman Norwegian Wood – der deutsche Titel lautet Naokos Lächeln – veröffentlichte. Manns Werke sind in Japan also nicht nur klassisches Bildungserbe, sondern geben bis heute kreative Anstöße.

Wie wird das 150. Geburtsjahr Thomas Manns in Japan gefeiert?

Sehr lebendig. Ich bin seit 2024 zu zahlreichen Veranstaltungen eingeladen worden – und es reißt nicht ab. Letztes Jahr jährte sich die Veröffentlichung von Der Zauberberg zum 100. Mal. Besonders eindrücklich war im Sommer 2024 eine große Tagung asiatischer Germanisten in der Küstenstadt Qingdao in China, die fast wie eine Szene aus Manns Landschaftsmetaphern wirkte. Denn Strände – wie in Der Tod in Venedig – sind bei ihm ebenso zentrale Schauplätze wie Berge, man denke nur an das Davoser Sanatorium im Zauberberg.

Dieses Jahr hielt ich in Fukuoka zusammen mit den bereits erwähnten Hirano und Suzuki eine Feier zum 150. Geburtstag von Thomas Mann ab. Allerdings fand diese nicht an Manns Geburtstag, sondern schon am 26. April statt, weil ich im Juni auf Einladung der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft in Lübeck zu einem Podiumsgespräch Thomas Mann auf allen Kontinenten sprach.

Im Mai 2024 hatte ich schon außerdem die Gelegenheit, Der Zauberberg in der Fernsehsendung „Meisterwerk in 100 Minuten“ des japanischen öffentlich-rechtlichen Rundfunks vorzustellen. Ausgerechnet während der abschließenden Kriegsszene wurde die Sendung von einem landesweiten Raketenalarm unterbrochen – ausgelöst durch einen Test nordkoreanischer Raketen. Ein fast unheimlicher Zufall, der mir noch einmal deutlich machte, wie aktuell Thomas Manns Literatur noch heute ist.

Yasumasa Oguro, Professor für Germanistik an der Universität Kyushu in Fukuoka, hat sich eingehend mit dem Werk Thomas Manns auseinandergesetzt. Er ist ehemaliger Präsident der Japanischen Gesellschaft für Germanistik und hat Monographien wie „Apokalyptische Träume. Thomas Mann und die Allegorie“ veröffentlicht. Neben Thomas Mann erforscht er die Romantik, Rudolf Kassner sowie Herta Müller.

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