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Tumult im trägen Elektronen-Dasein

22.05.2017

Ein internationales Team von Physikern hat erstmals das Streuverhalten von Elektronen in einem nichtleitenden Material direkt beobachtet. Ihre Erkenntnisse könnten der Strahlungsmedizin zugutekommen.

Elektronen in nichtleitenden Materialien könnte man Trägheit nachsagen. In der Regel bleiben sie an ihren Plätzen tief im Inneren eines solchen Atomverbunds. Es herrscht also relative Ruhe im dielektrischen Kristallgitter. Dieses Idyll haben nun Physiker um Professor Matthias Kling, Leiter der Arbeitsgruppe Ultraschnelle Nanophotonik an der Fakultät für Physik der LMU, und von dem Max-Planck-Institut für Quantenoptik (MPQ) erheblich durcheinandergewirbelt. Beteiligt waren Wissenschaftler vom Institut für Photonik und Nanotechnologien (IFN-CNR) in Mailand, dem Institut für Physik der Universität Rostock, dem Max-Born-Institut (MBI) in Berlin sowie dem Center for Free-Electron Laser Science (CFEL) in Hamburg und der Universität Hamburg. Zum ersten Mal haben es die Forscher geschafft, die Interaktion zwischen Licht und Elektronen in einem Dielektrikum, also einem nichtleitenden Material, auf Zeitskalen von Attosekunden (Milliardstel von milliardstel Sekunden) zu verfolgen. Darüber berichten sie aktuell in der Fachzeitschrift Nature Physics.

Die Forscher schickten auf ein rund 50 Nanometer dickes Glasteilchen Lichtblitze, die nur wenige hundert Attosekunden dauerten und Elektronen in dem Glas freisetzten. Gleichzeitig strahlten sie ein intensives Lichtfeld auf die Glasteilchen, das nur wenige Femtosekunden (Millionstel von milliardstel Sekunden) wirkte und die freigesetzten Elektronen in Schwingungen versetzte. Grundsätzlich könnte es in der Folge zu zwei unterschiedlichen Reaktionen der Elektronen kommen: Zuerst setzen sie sich in Bewegung, dann stoßen sie mit den Atomen aus dem Teilchen zusammen – entweder elastisch oder inelastisch. Zwischen jeder Wechselwirkung können sich die Elektronen dabei aufgrund des dichten Kristallgitters nur wenige Ångström (10-10 Meter) frei bewegen. „Bei einem elastischen Stoß bleibt wie beim Billard die Energie erhalten, nur die Richtung des Elektrons kann sich ändern. Bei einem inelastischen Stoß werden die Atome angeregt und ein Teil der Energie der Elektronen geht verloren. Im Experiment bedeutete dies einen Rückgang des Elektronensignals, den wir messen konnten“, beschreibt Professor Francesca Calegari von der Universität Hamburg die Experimente.

Da es dem Zufall überlassen ist, ob eine Interaktion elastisch oder inelastisch erfolgt, finden mit der Zeit zwangsläufig inelastische Interaktionen statt und die Anzahl rein elastisch gestreuter Elektronen nimmt ab. Durch genaue Messung der Schwingung der Elektronen in dem starken Lichtfeld fanden die Forscher heraus, dass es im Mittel circa 150 Attosekunden dauerte, bis elastisch stoßende Elektronen das Nanoteilchen verlassen hatten. „Aus der gemessenen Zeitverzögerung konnten wir mittels unserer neu entwickelten Theorie eine inelastische Stoßzeit von etwa 370 Attosekunden für die Elektronen bestimmen und damit erstmals diesen Prozess in einem Dielektrikum zeitlich vermessen“, beschreibt Professor Thomas Fennel von der Universität Rostock und dem Max-Born Institut in Berlin die Analyse der Messdaten.

Die Erkenntnisse könnten nun medizinischen Anwendungen zugutekommen. Denn mit diesen weltweit ersten Ultrakurzzeit-Beobachtungen von Elektronenbewegungen in einem nichtleitenden Material haben die Forscher wichtige Erkenntnisse über die Wirkung von Strahlung in einem Körper erlangt, der in den dielektrischen Eigenschaften dem menschlichen Gewebe ähnlich ist. In den Experimenten ist die Energie der angeregten Elektronen über das Licht steuerbar – dieser Prozess kann nun für einen breiten Energiebereich und für verschiedene Dielektrika untersucht werden. „Bei jeder Einwirkung hochenergetischer Strahlung auf Gewebe werden Elektronen erzeugt, die wiederum durch inelastische Stöße Energie auf die Atome und Moleküle des Gewebes übertragen, wodurch dieses zerstört werden kann. Genaue Kenntnisse über die Elektronenstreuung sind daher für die Bekämpfung von Tumoren wichtig. Hiermit lassen sich durch Computersimulationen Behandlungen so optimieren, dass ein Tumor zerstört wird, gesundes Gewebe aber möglichst verschont bleibt“, beschreibt Professor Matthias Kling die Bedeutung der Arbeiten. Im nächsten Schritt wollen die Wissenschaftler in den Experimenten die Glas-Nanoteilchen durch Wassertropfen ersetzen, um das Wechselspiel zwischen Elektronen und dem Stoff, aus dem lebendes Gewebe größtenteils besteht, genauer zu untersuchen. (Nature Physics 2017)

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