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Über den Tellerrand: „Lebensmittel sind mehr als Ernährung“

27.05.2025

Sophia Johler denkt Lebensmittelsicherheit neu – ganzheitlich, interdisziplinär und mit Künstlicher Intelligenz. Seit August 2024 ist sie Professorin für Lebensmittelmikrobiologie an der Tierärztlichen Fakultät der LMU.

Eigentlich wollte Sophia Johler tierärztliche Chirurgin werden. Während ihrer Promotion am Institut für Lebensmittelsicherheit der Universität Zürich entdeckte sie ihre Begeisterung für die lebensmittelmikrobiologische Forschung: „Ich wollte in meiner Doktorarbeit etwas Herausforderndes machen, in das ich mich richtig hineinstürzen kann“, erinnert sie sich. Nach wenigen Monaten fragte der Lehrstuhlinhaber, ob sie sich vorstellen könne, in die Wissenschaft zu gehen und an der Schnittstelle zwischen Nahrungsmitteln und Mikrobiologie zu forschen. „Ich hatte das bis dahin nie in Erwägung gezogen“, sagt Johler. „Ich musste also meinen ganzen Lebensplan noch einmal überdenken und es taten sich völlig neue Möglichkeiten auf.“

Nach der Promotion ging sie für einen Postdoc ans Institute for Biomolecular Medicine der New York University (NYU) – zum Staphylokokken-Papst Richard P. Novick. Es folgten Stationen an der veterinärmedizinischen Fakultät in Wien und am Bundesinstitut für Risikobewertung in Berlin sowie der Uni Zürich, wo sie als Assistenzprofessorin eine kleine Forschungsgruppe leitete. Inzwischen ist sie selbst ganz vorne mit dabei in der Spitzenforschung rund um das Thema Lebensmittelsicherheit – seit Sommer 2024 als Inhaberin des Lehrstuhls für Lebensmittelmikrobiologie an der Tierärztlichen Fakultät der LMU.

Porträt einer lächelnden Frau mit blonden Haaren im Dutt, in weißer Bluse vor grauem Hintergrund.

Prof. Dr. Sophia Johler

© privat

One Health: Menschen, Tiere und Umwelt

„Was unsere Arbeit in diesem Bereich besonders macht, ist, dass wir Lebensmittelsicherheit in einem One-Health-Kontext denken“, erklärt sie. „Wir gehen also davon aus, dass die Gesundheit von Menschen mit der Gesundheit von Tieren und der Umwelt verknüpft ist und man diese Aspekte nicht getrennt voneinander betrachten kann.“ Lebensmittel liegen in dieser Hinsicht genau in der Schnittmenge dieser drei Dimensionen.

Deswegen untersucht ihre Arbeitsgruppe Lebensmittel auf allen Ebenen – und in Zusammenarbeit mit vielen verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen. In einem innovativen Ansatz erstellt die Tiermedizinerin zum Beispiel molekulare Fingerabdrücke von Bakterien, die mithilfe von Bioinformatik und künstlicher Intelligenz dazu genutzt werden, um vorherzusagen, ob Keime in einem Lebensmittel für den Menschen gefährlich sind. „Wir versuchen da exakter zu werden und die Risiken differenzierter und spezifischer einzuschätzen“, sagt Johler. „So werden auch sehr viel weniger Lebensmittel verschwendet, weil man nicht so viel fälschlicherweise als riskant einstuft.“ Ihre Begeisterung für die Mikrobiologie ist inzwischen auch schon auf ihre drei Söhne übergeschwappt – „die schauen unfassbar gerne die alte Zeichentrickserie Es war einmal… das Leben, die Vorgänge im menschlichen Körper erklärt. Sie wollen am liebsten B-Lymphozyten sein und Pathogene bekämpfen.“

Doch Johlers Forschung beschränkt sich nicht nur auf die reine Mikrobiologie. Sie blickt auch auf das große Ganze. Der Risikoforschung wandte sie sich zu, weil sie das Gefühl hatte, dass bestimmte Themen aus mehreren Perspektiven betrachtet werden müssen – über Fächergrenzen hinweg. „Das ist sehr schwierig, weil meistens jeder nur in seinem Gebiet Fachexpertin oder Fachexperte ist und nicht so gut über den eigenen Tellerrand hinausblicken kann.“ Außerdem sei ihr Nachhaltigkeit sehr wichtig. „Wir dürfen die anstehenden wichtigen gesellschaftlichen Transformationsprozesse nicht verschlafen, weil jeder nur auf sein kleines Gärtchen schaut.“

KI-Stellvertretung für sachliche Verhandlungen

Eines der untersuchten Themengebiete ist der Einsatz von Biopestiziden in der Landwirtschaft – ein hochkomplexes Thema: Man muss die Vor- und Nachteile für Mensch, Umwelt und Natur abwägen und verschiedene Wechselwirkungen gegeneinander ausbalancieren. In einem laufenden Projekt setzt Sophia Johler auf eine unkonventionelle Methode, um innovative Lösungen zu finden und die Gräben zwischen den einzelnen Stakeholdern zu überbrücken, die dabei mitreden: Künstliche Intelligenz.

Das von ihr geführte MicRISK2030-Konsortium lässt dabei Large-Language-Modelle miteinander diskutieren – das ermöglicht es, die Evidenzgrundlagen der verschiedenen Gebiete mit einzubeziehen, und geht deutlich schneller und lösungsorientierter, als es bei Menschen mit unterschiedlichen Meinungen manchmal der Fall ist. „In unserem KI-Ansatz verwenden wir sogenannte agentenbasierte Modelle. Jeder Stakeholder – z.B. ein produzierender Landwirt, der konsumierende Verbraucher und die regulierende Behörde – wird als künstliches Modell abgebildet.“

Diese Agenten werden von den jeweiligen Fachexpertinnen und -experten mit Informationen, Daten, Erfahrungen und Perspektiven gefüttert und trainiert. Die so ausgeformten Stellvertretungen der einzelnen Stakeholder fangen danach an, untereinander zu verhandeln, und in einem „Human-in-the-Loop“-Ansatz werden die menschlichen Stakeholder im Prozess in ihrer Entscheidungsfindung unterstützt. Manchmal finden sich dadurch, so Johler, ganz unerwartete neue Lösungsräume. „Wir nennen das KI-gestützte Risikoverhandlung. Das ist ein sehr neuer Forschungsansatz – erst seit etwa zwei Jahren sind solche Probleme mathematisch überhaupt lösbar.“ Man kann damit insbesondere auch eine Güterabwägung bei hochkomplexen, fächerübergreifenden One-Health-Fragestellungen ermöglichen, die in den traditionellen Prozessen der Risikoanalyse so kaum möglich ist. Zudem bleibt die KI auch in kontroversen Bereichen konstruktiv, in denen es für menschliche Verhandlungsteilnehmerinnen und -teilnehmer oft schwierig ist, sachlich zu bleiben, ohne dass die Emotionen hochkochen, also etwa bei den Auswirkungen des Klimawandels oder politischen Auseinandersetzungen.

 Verschiedene Blickwinkel mitdenken

Das Spannende an dieser Art von Forschung ist für die Lebensmittelexpertin, dass sie hochgradig interdisziplinär ist. So arbeitet sie mit Kolleginnen und Kollegen aus der Mathematik, Physik, Epidemiologie, Chemie, Humanmedizin, Ethik, Umweltmikrobiologie, Risikobewertung – und natürlich mit den verschiedenen Stakeholdern aus Landwirtschaft, Umwelt- und Verbraucherschutz zusammen. Sie selbst ist gelernte Tierärztin und hat außerdem einen Master am Institut für Angewandte Psychologie (ZHAW) erlangt. „Ich dachte, den brauche ich eher für meine Führungsfunktion, aber jetzt ist er natürlich auch äußerst nützlich, um gruppendynamische Prozesse zu begleiten.“ Außerdem hilft ihr ihre Erfahrung als Fachtierärztin für europäische veterinärmedizinische öffentliche Gesundheit (ECVPH).

Als eine der stellvertretenden Frauenbeauftragten der Tierärztlichen Fakultät setzt sich Sophia Johler im Bereich Gleichstellung ein und möchte Frauen und alle anderen benachteiligten Gruppen unterstützen. „Ich bin außerdem in der Mentoring-Kommission, die sich vielversprechenden jungen Postdocs an die Seite stellt und sie über den Austausch mit einer Mentorin oder einem Mentor, Grants, Kurse und Workshops zwei Jahre lang intensiv fördert und auf dem Weg zur Professur begleitet.“ Nebenbei ist Johler Chef-Editorin der wissenschaftlichen Zeitschrift International Journal of Food Microbiology – eine der weltweit besten Fachzeitschriften auf dem Gebiet. Sie ist auch im Board des European College of Veterinary Public Health, das die fachtierärztliche Ausbildung der europäischen Tierärztinnen und Tierärzte im Bereich öffentliche veterinärmedizinische Gesundheit leitet. „Es macht unheimlich Spaß, über die Ländergrenzen hinweg zu blicken und zu sehen, was sich anderswo auf dem Fachgebiet tut und was wir gemeinsam bewegen können.“

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