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US-Rückzug als Stresstest: Was globale Institutionen jetzt trägt

03.12.2025

Politikwissenschaftler Tim Heinkelmann-Wild zeigt, wie der Multilateralismus durch Trump unter Druck gerät und warum Europa jetzt einspringen sollte.

Dr. Tim Heinkelmann-Wild untersucht am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft an der LMU unter anderem die Folgen des Rückzugs der USA aus der regelbasierten multilateralen Ordnung und zeigt auf, wie internationale Abkommen und Organisationen ohne die Unterstützung der Hegemonialmacht handlungsfähig bleiben können.
Nachdem er für seine Dissertation zu diesem Themenkomplex After Exit: Alternative Leadership and Institutional Resilience after Hegemonic Withdrawal bereits den John McCain Dissertation Award der Münchner Sicherheitskonferenz, den Förderpreis der Münchener Universitätsgesellschaft (MUG) und den Dissertationspreis 2025 der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN) entgegennehmen konnte, wird er an diesem Donnerstag mit dem Deutschen Studienpreis ausgezeichnet.

Herr Dr. Heinkelmann-Wild, wie schätzen Sie ein Jahr nach dem ersten Interview über Ihre Arbeit und nach fast einem Jahr Donald Trump die Situation für die multilateral verfasste Welt ein?

Tim-Heinkelmann-Wild: Trump hat jetzt innerhalb von wenigen Monaten das gemacht, für das er sich in seiner letzten Amtszeit vier Jahre Zeit gelassen hat. Und er hat sogar noch eine Schippe draufgelegt.
Die USA haben sich erneut aus der Weltgesundheitsorganisation (WHO), dem Pariser Klimaabkommen, der Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft, Kultur und Kommunikation (UNESCO), dem UN-Menschenrechtsrat sowie weiteren multilateralen Formaten verabschiedet. Zugleich wurden die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit um rund 90 Prozent gekürzt. Im Handel blockiert die Trump-Administration die Welthandelsorganisation (WTO) weiter und verfolgt eine harte Zollpolitik. Durch zahlreiche bilaterale „Deals“ entsteht faktisch eine eigene, parallele US-Handelsordnung neben der bestehenden Welthandelsordnung.

LMU-Politikwissenschaftler Dr. Tim Heinkelmann-Wild
© LMU | Benjamin Asher

Hätte man nach der ersten Trump-Erfahrung nicht mit einem derartigen Rückzug rechnen können?

Ja, aus politikwissenschaftlicher Perspektive auf jeden Fall. Allerdings hat kaum jemand daran geglaubt, dass Trump wiedergewählt werden würde. Entsprechend hektisch war die Reaktion nach der Wahl 2024 von internationalen Organisationen und Europa. Die Ausnahme bilden vor allem solche Organisationen, die in der Vergangenheit bereits wiederholt vom US-Rückzug betroffen waren. Diese sind nun tatsächlich aber besser aufstellt als während Trumps erster Amtszeit.

Können Sie ein Beispiel nennen?

In der UNESCO etwa wurden ursprünglich über 20 Prozent des Budgets von den USA gezahlt. Als die USA unter Joe Biden in die Organisation zurückkehrten, wurde diese Abhängigkeit auf etwa acht Prozent reduziert. Daher schmerzt die erneute Aussetzung der US-Mitgliedschaft nun deutlich weniger. Die Organisation hat sich mittlerweile auf ein Leben ohne die USA eingestellt.

Wie reagiert Europa diesmal auf die US-Abkehr vom Multilateralismus?

Die Reaktion der EU und europäischer Regierungen fällt bislang deutlich zurückhaltender aus als während Trumps erster Amtszeit. Auch wenn die Rhetorik oft sehr positiv zu multilateralen Institutionen ist, fallen die Maßnahmen deutlich hinter Trumps erste Amtszeit zurück. Das ist fatal, denn andere mächtige Staaten müssen zumindest teilweise dafür kompensieren, wenn ein so großer Player wie die USA wegfallen. War Europa während Trumps erster Amtszeit noch willens, für die USA einzuspringen, scheint dieser Wille nun deutlich schwächer.

Woran liegt das?

Drei Entwicklungen können erklären, weshalb Europas Reaktion auf Trump diesmal schwächer ausfällt: erstarkender Rechtspopulismus, die Pandemie und die Bedrohung durch Russland. Erstens ist das Erstarken von nationalistischen und autoritären Kräften nicht auf die MAGA-Bewegung in den USA begrenzt. Auch mit Unterstützung von Trump und seinen Anhängerinnen und Anhängern hat der Einfluss von Rechtspopulisten in Europa zugenommen und sie lehnen starke multilaterale Institutionen, wie auch die EU selbst, ab.

Zweitens geriet die Akzeptanz multilateraler Institutionen im Verlauf der Coronapandemie unter zusätzlichen Druck. Die Kritik an der WHO und ihren Empfehlungen befeuerte in Teilen der Bevölkerung eine ganz grundsätzliche Skepsis gegenüber der Autorität internationaler Organisationen als unpolitische Expertinnen und Experten und neutrale Vermittelnde. Zugleich dämpfte die Pandemie Europas wirtschaftliche Leistung. Schließlich führte der russische Angriff auf die Ukraine dazu, dass die verfügbaren finanziellen Mittel nun vermehrt für Rüstung verausgabt werden. Zudem schreckt Europa angesichts der Bedrohung durch Russland davor zurück, die USA als wichtigsten Sicherheitsgaranten zu provozieren, indem sie sich für multilaterale Institutionen einsetzen.

Warum Europas Zukunft vom Multilateralismus abhängt

Welche Möglichkeiten sehen Sie, dem Multilateralismus wieder zu mehr Geltung zu verhelfen?

Europäische Entscheidende haben es in der Hand, den Multilateralismus wiederzubeleben. Dies ist auch unter den aktuellen Vorzeichen möglich. Denn die finanziellen Mittel, die für die Aufrechterhaltung multilateraler Institutionen nötig sind, liegen deutlich unter jenen für Rüstung. Ein Einsatz für multilaterale Institutionen muss also nicht auf Kosten unserer Sicherheit gehen.

Zudem ist der Fortbestand der regelbasierten multilateralen Ordnung im starken strategischen Interesse Europas. Aus der EU – geschweige denn aus Deutschland – wird in absehbarer Zukunft keine militärische Großmacht auf Augenhöhe mit Russland, China und den USA. In einer machtbbasierten Ordnung geriete Europa also ins Hintertreffen. Daher sollte Europa alles daransetzen, die regelbasierte Zusammenarbeit, wo immer möglich, aufrechtzuerhalten. Denn in diesem Spiel kann Europa seine wirtschaftliche Stärke und insbesondere seine „Soft Power“ als glaubwürdiger Verfechter des Multilateralismus voll ausspielen.

Meine Hoffnung ist, dass sich diese Einsicht zunehmend in den europäischen Hauptstädten und in Brüssel durchsetzt und der politische Wille zur Verteidigung des Multilateralismus zurückkehrt.

Welche Chancen sehen Sie generell für den Multilateralismus weltweit?

Ich sehe weltweit weiterhin große Chancen für den Multilateralismus. Im globalen Süden gibt es nach wie vor überzeugte Unterstützung eines regelbasierten und inklusiven Systems. Gerade kleinere und aufstrebende Staaten haben ein großes Interesse daran, dass das Recht des Stärkeren nicht internationales Recht überschreibt.

Mit diesen Staaten kann Europa zusammenarbeiten und in verschiedenen Politikfeldern starke Partnerschaften knüpfen: bei Menschenrechten etwa mit Lateinamerika, beim Klima beispielsweise mit China oder inzwischen auch wieder mit Brasilien. Europa muss dafür jedoch bereit sein, diese Stimmen ernst zu nehmen und gemeinsam Kompromisse zu suchen, statt sich auf eigene Interessen zu verengen. Das wäre ein wichtiger, realistischer Wandel in der europäischen aktuellen Haltung.

Tim Heinkelmann-Wild und Bundestagspräsidentin Julia Klöckner bei der Preisverleihung vor einem Körber-Stiftung-Banner. Heinkelmann-Wild hält eine Urkunde in den Händen.

Bundestagspräsidentin Julia Klöckner und Dr. Tim Heinkelmann-Wild bei der Vergabe des Deutschen Studienpreises der Körber-Stiftung am 4. Dezember 2025.

© David Ausserhofer

Wo zeigt sich die größte Verwundbarkeit internationaler Organisationen gegenüber nationalen Alleingängen?

Multilaterale Institutionen sind stark von der politischen Unterstützung und den Beiträgen ihrer Mitgliedsstaaten abhängig. Sie geraten besonders dann ins Wanken, wenn ihre Ressourcen von einigen wenigen Staaten stammen – historisch oft von den USA – und sich diese dann zurückziehen. Das sehen wir aktuell in der Budget-Krise der UN. Vetorechte wie in der WTO oder dem UN-Sicherheitsrat ermöglichen es einzelnen Staaten zudem, ganze Organisationen zu blockieren und sie damit irrelevant zu machen.

Ein neuer, besonders besorgniserregender Trend ist, dass die USA oft gemeinsam mit Argentinien vormals konsensuale UN-Resolutionen zu Nachhaltigkeit, Frauenrechten und LGBTQ-Rechten wieder zur Abstimmung stellen. Das ist der Versuch, die jahrzehntelang etablierte gemeinsame Wertebasis zu erodieren. Das schwächt nicht nur das politische Fundament der UN, sondern gefährdet auch Europas Geschlossenheit. Wenn manche rechts-nationale Regierungen von der Mehrheitslinie abweichen, kann die EU nicht mehr mit einer Stimme sprechen.

Warum die USA ihren Rückzug aus der Weltordnung fortsetzen

Wenn es wieder eine demokratische Regierung nach Trump geben würde – wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass viele Entscheidungen und Austritte wieder rückgängig gemacht werden?

Mit einem kompletten Kurswechsel der USA ist auch unter Führung der Demokraten nicht zu rechnen. Nach Trumps erster Amtszeit hat Joe Biden nur Teile von Trumps Außenpolitik zurückgenommen, diese in anderen Bereichen aber fortgesetzt. Das liegt im Wesentlichen an drei Trends, die zur Abkehr der USA von der regel-basierten multilateralen Ordnung beitragen – unabhängig davon, ob Republikaner oder Demokraten regieren.

Erstens verschiebt sich die globale Machtbalance zugunsten des globalen Südens, insbesondere Chinas. Das veranlasst die USA dazu, Ressourcen beispielsweise von multilateralen Institutionen und Entwicklungshilfe abzuziehen und sich stärker auf die Sicherheit im Indo-Pazifik zu fokussieren.

Zweitens haben multilaterale Institutionen seit dem Ende des Ost-West-Konflikts stark an Einfluss gewonnen und die USA müssen dort ihre Macht mit zunehmend mächtigen Mitgliedsstaaten aus dem globalen Süden teilen. Von beiden großen Parteien werden sie daher immer öfter als Hindernis, denn als Instrument für die nationale Interessenpolitik wahrgenommen.

Drittens findet in den USA ein innenpolitischer Wandel statt: Die jüngere Generation sowohl bei den Republikanern als auch Demokraten wendet sich vom traditionellen Internationalismus ab. Sie sehen Auslandseinsätze und multilaterale Institutionen skeptisch und konzentrieren sich stärker auf innenpolitische Fragen.

Insgesamt deutet all dies darauf hin, dass die USA ihren Rückzug aus multilateraler Zusammenarbeit fortsetzen werden – selbst moderatere Regierungen werden diesen Kurs nur teilweise bremsen, aber nicht grundsätzlich umkehren.

Mit Blick auf die Zukunft: Was macht Ihnen Hoffnung?

Wir haben nach Trumps Rede vor den Vereinten Nationen erlebt, dass die meisten Staaten den Multilateralismus sehr stark verteidigt haben. Auch Europa ist zumindest in seiner Rhetorik bislang nicht von diesen multilateralen Prinzipien abgerückt.

Ganz zentral ist jetzt, dass sich Europa gestaltend einbringt. Es sollte nicht versuchen, Trump auszusitzen, sondern das Momentum nutzen, um mit gleichgesinnten Ländern die regelbasierte multilaterale Ordnung aufrechtzuerhalten und an die neuen Zeiten anzupassen. Eine Chance hierzu ist der aktuelle Reformprozess in den Vereinten Nationen. Dass Europa fähig ist, als alternativer Anführer für den Multilateralismus einzutreten, hat Trumps erste Amtszeit gezeigt. Nun ist es eine Frage des politischen Willens, diese Erfolge zu wiederholen.

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