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Von Finnisch bis Ersja: Professorin Ksenia Shagal erforscht uralische Sprachen

19.07.2022

Neuberufen an der LMU, beleuchtet die Linguistin Typologie und Diversität der riesigen Sprachfamilie.

Das Aussterben mancher Sprache kann Professor Ksenia Shagal auf den Tag genau benennen. „Mit dem Todestag des letzten Muttersprachlers”, erklärt die Linguistin. Denn zu der großen und vielfältigen Familie der uralischen Sprachen, die sie vornehmlich untersucht, gehören nicht nur große Staatssprachen, sondern auch kleinere und ausgestorbene.

Seit April dieses Jahres hat Shagal den Lehrstuhl für Finnougristik/Uralistik mit Schwerpunkt Sprachtypologie und sprachliche Diversität an der LMU inne. Aus Russland stammend, hatte sie sich in ihrer Bachelor- (2009) und ihrer Masterarbeit (2011) an der Sankt Petersburger Staatliche Universität zunächst noch mit Allgemeiner Sprachwissenschaft befasst, insbesondere der Typologie slawischer Sprachen. In ihrer Dissertation an der Universität Helsinki behandelte sie sodann eine weltweite Typologie von Partizipien – jenen auf Verben basierenden Wortformen wie „sitzend” oder „geschrieben”. Für diese Arbeit wurde sie mit dem Greenberg Award der Association for Linguistic Typology ausgezeichnet.

„Aber unter Hunderten von untersuchten Sprachen stachen, nicht nur im Hinblick auf die Partizipien, die uralischen Sprachen heraus”, erinnert sich Shagal. Diese Sprachfamilie, die ihren Ursprung im Uralgebirge hat, besteht aus mehreren separaten Zweigen wie Saami, Permisch und Samojedisch und wird heute von 25 Millionen Menschen auf der ganzen Welt gesprochen. Neben den Staatssprachen Finnisch, Estnisch und Ungarisch zählen dazu auch kleinere Sprachen in Norwegen, Schweden, Finnland, der baltischen Region sowie in verschiedenen Teilen Russlands einschließlich Sibiriens.

Diese Sprachfamilie, die ihren Ursprung im Uralgebirge hat, besteht aus mehreren separaten Zweigen wie Saami, Permisch und Samojedisch und wird heute von 25 Millionen Menschen auf der ganzen Welt gesprochen.


Professorin Ksenia Shagal

© Stephan Höck

Sprachkontakte beim Rentierhüten

Neben Gemeinsamkeiten wie einem reichhaltigen Kasussystem sei besonders die typologische Vielfalt der Sprachfamilie bemerkenswert, so Shagal. Während ihres Postdoktorats in Helsinki ab 2017 beleuchtete sie daher nicht-finite Verbformen, also Verben ohne Personal- und Tempusendungen, sowie komplexe syntaktische Strukturen in uralischen Sprachen.

„Einer der faszinierendsten Aspekte dieser Sprachfamilie ist die unterschiedliche Art, wie komplexe Sätze geformt werden”, so Shagal. Die Verteilung syntaktischer Strukturen folge dabei klaren räumlichen Mustern, die die „Kontaktgeschichten” verschiedener uralischer Varietäten widerspiegelten. „Insbesondere die westuralischen Sprachen teilen sich viele Merkmale mit anderen europäischen Sprachen. Die im Wolga-Kama-Gebiet gesprochenen dagegen ähneln den Turksprachen der Region. Und die uralischen Sprachen Sibiriens sind nordeurasischen, wie Tungusisch und Jenisseisch, ähnlich.” Manche Einflüsse seien dabei beim Rentierhüten zustande gekommen.

Ein Beispiel für eine räumlichen Unterschied sei die Wortreihenfolge im Satz. „Während diese in den östlicheren uralischen Sprachen mit ‚Subjekt – Objekt – Prädikat’ noch dem Ur-Uralisch entspricht, haben westliche Varietäten wie Finnisch oder Estnisch, heute die Struktur‚ Subjekt – Prädikat – Objekt’ angenommen – wie etwa Englisch und Französisch.” Ein weiteres Beispiel sei die „Adjektivvereinbarung”: „In europäischen Sprachen wie dem Deutschen ändern sich Adjektive entsprechend Fall, Numerus und Genus des Substantivs. Einige uralische Sprachen in Europa haben diese Eigenschaft übernommen – mit Ausnahme des Geschlechts, da diese grammatikalische Kategorie in den uralischen Sprachen völlig fehlt.”

Als nordischer Mensch in München

Bei aussterbenden Sprachen wie Ischorisch und Wotisch, die in der Nähe der russisch-estnischen Grenze gesprochen würden, ginge es für Forschende zunächst darum, diese zu dokumentieren. Linguistische Feldforschung führte Shagal daher in viele abgelegene Orte Russlands, wo gefährdete und nicht ausreichend dokumentierte Sprachen wie Ersja und Berg Marisch noch aktiv gesprochen werden. „Dazu nimmt man direkt vor Ort Sprachproben von Muttersprachlern auf.” Idealerweise benötigen Forschende für diese Art von Arbeit eine professionelle Ausrüstung, aber heute reiche für Video- und Audiofiles oft ein Handy. „Die Mitschnitte werden transkribiert, analysiert, annotiert und ins Englische übersetzt.”

Neben solchen Dokumentationsprojekten ist eines von Shagals Zielen in München, als Lehrstuhl zu wachsen. „Die Finnougristik/Uralistik-Studien sind mit nur zehn Lehrstühlen an europäischen Universitäten ein relativ kleines Fach.” Insbesondere möchte sie Brücken schlagen zwischen uralischen Sprachen und linguistischer Typologie. „Aus einer breiteren Perspektive wollen wir beleuchten, wie uralische Sprachen in das große Bild der weltweiten Sprachdiversität passen.”

An das Leben in München musste Shagal sich erst gewöhnen. „Ich bin ein nordischer Mensch. Unbewusst wartete ich ab Mai auf die taghellen ‚Weißen Nächte’ von St. Petersburg.” Mittlerweile liebe sie die Stadt München sehr. „Die Menschen sind sehr freundlich – und ich mag diese ‚Old University’-Vibes vieler alter LMU-Gebäude.”

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