News

„Vorurteile überwinden“

22.05.2017

Vielfalt ermöglichen statt in Stereotypen denken: ein Interview mit LMU-Soziologin Paula-Irene Villa über das Konzept Diversity und die Herausforderungen, die damit verbunden sind.

Am 30. Mai ist „Diversity-Tag“ an der LMU – was versteht man genau unter dem Begriff Diversity?Villa: Der Begriff wird in unterschiedlichen Kontexten verwendet, daher ist eine allgemeingültige Definition schwierig. Die meisten können sich wahrscheinlich darauf einigen, dass man unter Diversity versteht, die Vielfalt der Lebenssituationen, der sozialen Zugehörigkeiten und auch der Identitäten des Personals einer Organisation anzuerkennen und diese vielleicht sogar strategisch zu nutzen. Mit Diversity ist gemeint, dass man eben nicht pauschal absieht von der Vielfalt des Personals – was auch immer sie ausmacht.

Der Diversity Tag wird bundesweit von dem Verein Charta der Vielfalt getragen, der die „Vielfalt in Unternehmen und Institutionen fördern will“. Welche Motivation steckt dahinter?Villa: Im privatwirtschaftlichen Kontext geht es um Ressourcen und Profit. Es geht darum, die besten Köpfe zu gewinnen und keine Talente zu verlieren, nur weil man sie nicht als solche erkennt oder sie sich nicht adressiert fühlen. In öffentlichen Einrichtungen wie einer Universität spielen auch Fragen der Gerechtigkeit eine Rolle und die Anerkennung von Leistung jenseits von Vorurteilen. Damit verbunden ist auch das Ziel, die Breite der Bevölkerung möglichst einzuholen, also zum Beispiel auch Studieninteressierte zu gewinnen, deren Eltern selbst keine Akademiker sind. Darin steckt die Einsicht und Verpflichtung, Universitäten als Teil einer pluralen Gesellschaft zu begreifen.

In der Charta der Vielfalt heißt es unter anderem „Die Vielfalt der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten und Talenten eröffnet Chancen für innovative und kreative Lösungen“. Gibt es denn Forschungsergebnisse zu den Vorteilen von Vielfalt?Villa: Es gibt Studien, die in die Richtung weisen, dass Diversity im Unternehmenskontext mehr Profit bringen kann, weil Vielfalt zu mehr Kreativität und Innovation führt und neue Märkte eröffnet. Wobei das auch umstritten ist und ich skeptisch bin, ob sich das wirklich so eindeutig feststellen lässt. Diversity zielt aber auch darauf ab, Stereotype und Vorurteile zu überwinden. Und zu der Wirkung von Vorurteilen gibt es viele Studien. Leistung und Qualität wird oft nicht erkannt – auch im wissenschaftlichen Bereich –, weil stattdessen auf bestimmte Merkmale geachtet wird, die vermeintlich in Widerspruch dazu stehen. Vielfach sehen Personal-Entscheiderinnen und -Entscheider zum Beispiel eine Wissenschaftlerin zuerst und vor allem als Frau und eben nicht als Wissenschaftlerin, gar Kollegin, – oder einen „Migranten“ nicht als den super Verwalter, der er ist – oder womöglich sein könnte. Organisationen, die für Diversity offen sind und dies als Kompetenz begreifen, gehen sensibler mit solchen Vorurteilen um.

Ist man denn bei dem Ziel, Diversity zu erreichen, auf einem guten Weg?Villa: Einerseits ja, da es viele Organisationen gibt, die sich für Vielfalt einsetzen und in denen Personen arbeiten, die über Diversity-Kompetenz verfügen. Das ist gerade für Unternehmen und Organisationen wie Universitäten wertvoll, für die es wichtig ist, international zu agieren. Aber ob man vom Ergebnis in Deutschland schon weit genug ist? Allein wenn man sich die Zahlen ansieht, ist da sicherlich noch Luft nach oben. Auf gesellschaftlicher Ebene stellt sich Diversity etwas anders dar. Wir erleben politisch gerade in Europa und auch in den USA auf eine sehr problematische Art und Weise das, was manche – und dem würde ich mich anschließen – einen Kulturkampf nennen. Einen Kampf zwischen dem Interesse, Differenz als Normalfall und interessante, wenn auch nicht immer unproblematische Bereicherung anzuerkennen, einerseits und einer fundamentalistischen und antipluralistischen Opposition dagegen andererseits, die verbunden ist mit dem Bedürfnis, kompakte homogene Gruppen zu haben. Das ist eine Herausforderung, aber auch eine Chance auf gesellschaftlicher Ebene, weil nun alle ausbuchstabieren müssen, warum Differenz wichtig und bisweilen ein Gewinn sein kann, und wie es gelingen kann, Differenzen dabei nicht zu verabsolutieren und eben nicht nur noch von den Migranten oder den Homosexuellen zu sprechen.

Welche Forschungsfragen wirft Diversity in Ihrem Bereich, der Soziologie, auf?Villa: Diversityforschung beschäftigt sich intensiv mit dem Begriff Diversity: Was genau macht diese Vielfalt aus, über die sich leicht reden lässt, die aber in der Forschung schwierig stabil zu erfassen ist: Wen steckt man denn in welche Schubladen und welche Differenz ist überhaupt relevant? Außerdem stellt sich die Frage nach den sogenannten Policies: Welche Strategien lassen sich an welcher Stelle implementieren, um Diversity zu erreichen? Welche Maßnahmen bringen etwas und wie ließe sich das messen? Welche Organisationen sollten das wollen und warum?

Diversity-Policies sind ja eine paradoxe Intervention: Sie betonen Differenz, um das eigentliche Ziel, von diesen absehen zu können, zu erreichen. Zudem werden in Diversity-Strategien Unterschiedlichkeiten womöglich verdinglicht. Wir tun im Reden um Diversity so, als ob Menschen unterschiedlich sind, nur weil sie zum Beispiel andere Staatsbürgerschaften oder Hautpigmentierungen haben. Wenn man sich genau damit beschäftigt, und das tue ich in meiner Forschung, merkt man: Das ist alles gar nicht so klar. Diversity soll Perspektivenvielfalt schaffen. Das klingt gut. Aber ich halte es für fragwürdig, dass mit bestimmten sozialen Zugehörigkeiten – jemand kommt aus einem bestimmten Land oder hat ein bestimmtes Geschlecht – tatsächlich eine bestimmte Perspektive einhergeht. Ist es dann zum Beispiel wirklich relevant, ob eine rothaarige oder dunkelpigmentierte Person am Labortisch über Epigenetik forscht? Warum sollte diese Differenz wichtig sein? Sie sollte ja im Gegenteil gerade keine Rolle spielen. Andererseits muss man sehen: Empirisch machen diese Differenzen bislang einen großen Unterschied. Es gibt systematische, historisch gewordene Exlusionsdynamiken in der Wissenschaft, die etwa über Hautfarbe laufen (Rassismus, um es beim Namen zu nennen), entlang von Geschlecht, von sogenannter Behinderung, von Klasse und so weiter. Das zu ignorieren wäre soziologisch dumm. In dieser Hinsicht ist es wichtig, dass die Wissenschaft selbstreflexiv über sich, ihr Personal und ihre Inhalte im Sinne von Diversity nachdenkt.

Sie haben den Lehrstuhl für Soziologie und „Gender Studies“ inne – wie hängt „Gender“ mit Diversity zusammen?Villa: Geschlecht ist eine von vielen Differenzen, die in Diversity-Diskursen wirksam werden. Zugleich ist es in den Gender Studies schon lange state of the art, dass auch andere Differenzen Geschlechtlichkeit beeinflussen. Diversity ist also auch eine Brille, durch die sich empirisch auf Geschlecht schauen lässt. Allerdings wird Diversity dabei auch kritisch gesehen, weil der Begriff doch sehr an seiner unternehmerischen Herkunft klebt. In den Gender Studies sprechen wir eher von Intersektionalität. Auf der politischen Ebene der Gleichstellungsfragen gibt es eine gewisse Konkurrenz der Konzepte – zuerst gab es Frauenförderung, dann verschob sich der Fokus auf Gender-Mainstreaming, nun ist Diversity die Devise. Manche, die politisch mit Gleichstellung befasst sind, sehen mit Sorge auf die neue Übermacht von Diversity, weil das Geschlecht darin verschwindet. Das Etikett Diversity wird auch tatsächlich viel lieber aufgegriffen als Geschlecht/Gender, das mit Feminismus, politischer Auseinandersetzung, mit Fragen nach Ungleichheit, Herrschaft und Macht verbunden ist. Diversity hingegen trägt das Versprechen in sich, dass es um eine schöne, bunte Vielfalt gehe. So, wie sie auf den Bildern der üblichen Fotodatenbanken abgebildet wird, wo alle gleich aussehen, nur dass eine Person einen Bart hat, die andere Afrolocken und eine Mandelaugen. Es wird eine hübsche globalisierte Welt dargestellt, in der Diversity pittoresk und zugleich stereotyp ist – eine vom Politischen bereinigte Welt der bunten Vielfalt. Aber das sind Bilder. Ich denke, dass in konkreten Implementierungsprozessen durchaus auch sehr ernsthaft über Diversity nachgedacht werden kann.

Haben Sie selbst eine Vision von Diversity?Villa: Meine Vision ist, dass in Einrichtungen wie Universitäten das Versprechen auf eine reine Meritokratie endlich eingelöst wird, und es nur auf die Qualität der Forschung und Leistung ankommt. Dazu muss man die Vielfalt der Lebenssituationen des Personals pragmatisch berücksichtigen, sie aber nicht zum Maßstab der Personen machen.

Zur Person: Paula-Irene Villa ist Inhaberin des Lehrstuhls für Soziologie und Gender Studies an der LMU. Sie ist Co-Sprecherin des Bayerischen Forschungsverbunds ForGenderCare und forscht zudem unter anderem über Ernährung, Fitness und Gesundheit im Rahmen eines VW-Forschungsverbunds.

Am 30. Mai 2017 findet der Diversity-Tag an der LMU für Studierende und Beschäftigte statt. Informationen zum Programm gibt es unter www.lmu.de/diversity-tag

Wonach suchen Sie?