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Was kann der Klassiker uns heute noch sagen?

14.09.2017

Marx lesen oder lassen? Wie LMU-Forscher verschiedener Disziplinen die Relevanz von Marx' Kapitalismusanalyse einschätzen.

Vor 150 Jahren wurde der erste Band von Karl Marx' Werk Das Kapital veröffentlicht. Er gilt als einer der wichtigsten Publikationen des 19. Jahrhunderts, die UNESCO zählt ihn zum Welterbe. Welche Relevanz hat der Klassiker heute? Ist die Kapitalismusanalyse noch aktuell? Diese Frage beantworten LMU-Forscher verschiedener Disziplinen:

150 Jahre Kapital – und kein Ende

Stephan Lessenich, Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Soziale Entwicklungen und Strukturen an der LMU:

„In der Soziologie gelten Marx und Das Kapital ganz unbestritten als Klassiker der Disziplin – und dies auch außerhalb des hierzulande ohnehin kaum existenten akademischen Marxismus. Das mag daran liegen, dass man in der Soziologie beide nicht nur vom Hörensagen kennt beziehungsweise in der ansonsten kursierenden Version der schrecklichen Vereinfacher. Wer die Dynamik und die Widersprüche der Gegenwartsgesellschaft verstehen will, der muss Marx und Das Kapital lesen. In unnachahmlicher Weise hat er klar gemacht, was diese Gesellschaft im Innersten zusammenhält – und zugleich auseinandertreibt: Die auf geradezu unwahrscheinliche Weise wirtschaftlichen Wert schöpfende und basale Formen der Sozialität zerstörende Logik des Kapitals. Marx analysiert, er moralisiert nicht. Er verurteilt nicht den Kapitalisten, sondern seziert die strukturellen Zwänge der Kapitalherrschaft. Er schreibt keine Endzeitgeschichte des Kapitalismus, sondern verweist auf die Bewegungen und Gegenbewegungen, die ihn permanent in die Krise stürzen und doch immer wieder neu beleben. Marx zeigt schonungslos, wer was vom Kapitalismus hat – und was er wen kostet. An diese Einsichten lässt sich auch heute noch sinnvoll anschließen – wissenschaftlich, aber auch politisch. Ein solches Urteil kann man nur über die wenigsten Beiträge zur Soziologie fällen, zumal nach anderthalb Jahrhunderten. Ein Klassiker eben, ganz unbestritten.“

Am Anfang wesentlicher Debatten

Martin H. Geyer, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der LMU:

„Das Kapital gehört zu den unlesbaren und ungelesenen Büchern, das mich als Historiker schon deshalb interessiert, weil es am Anfang von Debatten steht, ohne die sich das 20. Jahrhundert und die Gegenwart nicht erschließen lassen. Karl Marx inspirierte damals wie heute aktuelle kritische Debatten über Ausbeutung, Ungleichheit und Klassen, über die moderne Warengesellschaft, Globalisierung und die Möglichkeiten sozialer Bewegungen. Wie kein anderer stieß er Reflexionen an über die in alle Fugen der Gesellschaft eindringende, revolutionäre Gewalt des modernen (Industrie-)Kapitalismus, der wirtschaftliche und soziale Ordnungen und Werte permanent zerstört und auf wundersame Weise zugleich immer neu herstellt. Trotz der Emphase, mit der er gegenüber seinen zeitgenössischen französischen Adepten betonte, kein „Marxist“ zu sein, waren und sind die Aneignung und Entwicklung seiner Ideen gleichermaßen Movens für Modelle verschiedener Varianten nicht nur eines sozialen Kapitalismus, sondern auch von mörderischen Utopien, darunter nicht zuletzt der Maoismus in China, dessen Transformation zu einer Modellvariante eines autoritären Kapitalismus uns ebenso noch in Atem halten wird wie die Transformationen unserer scheinbar behüteten Gegenwart.“

Bleibt aktuell

Uwe Sunde, Professor für Bevölkerungsökonomie an der Volkswirtschaftlichen Fakultät der LMU:

„Die meisten (Mainstream-) Ökonomen haben ein eher schwieriges Verhältnis zu Marx. Dies gilt insbesondere für die methodischen und wissenschaftlichen Aspekte im engeren Sinn. Hier gilt vieles, wenn nicht gar das meiste, als überholt beziehungsweise widerlegt. Insofern hat er in der VWL weniger Einfluss als in anderen Disziplinen (Philosophie, Geschichts-, Sozial-, und Politikwissenschaften).

Im weiteren Sinn ist Das Kapital jedoch nach wie vor sehr einflussreich und prägt – zumindest indirekt – die Diskussion bis heute oder sogar mittlerweile wieder mehr als vor einiger Zeit. Dies zeigt sich etwa in der Diskussion um Thomas Pikettys Buch zur Ungleichheit, das nicht zufällig den Titel Kapital im 21. Jahrhundert trägt. Beispiele für Themen, die bereits Das Kapital aufgreift und die heute (wieder) sehr intensiv diskutiert werden, sind der Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Ungleichheit oder die Verbindung zwischen Ungleichheit und politischer Stabilität. Während die Prophezeiung des Zusammenbruchs des gegenwärtigen kapitalistischen Systems durch eine Divergenz in der Ungleichheit (von Arbeitern und Kapitaleignern) lange für überholt galt, sind einige Argumente, etwa von Wirtschaftswachstum als Determinante des Zusammenbruchs des kapitalistischen Wirtschaftssystems, wieder erstaunlich aktuell.

Auch die konzeptionell enge Verbindung zwischen verschiedenen Faktoren, etwa technologischem Wandel, Wirtschaftsentwicklung, der institutionellen Sicherung von Eigentumsrechten durch den Rechtsstaat und dem politischen Regime, die bereits im Kapital steckt, erfährt in der volkswirtschaftlichen Forschung seit etwa der Jahrtausendwende neues, verstärktes Interesse. Natürlich unterscheidet sich die aktuelle wissenschaftliche Diskussion methodisch stark von der Marx‘, aber die Thematik bleibt aktuell."

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