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Welttag des Buches

23.04.2024

Welchen Stellenwert hat Literatur in Schule und Gesellschaft – und wie lassen sich Kinder und Jugendliche heute für das Lesen begeistern?

Jedes Jahr am 23. April – dem Geburtstag von William Shakespeare und Miguel de Cervantes – stellt der 1995 von der UNESCO ins Leben gerufene „Welttag des Buches“ die Literatur in den Mittelpunkt. Mit einer Vielzahl von Aktionen und Veranstaltungen in Bibliotheken, Schulen oder Buchhandlungen werden das Lesen, das Schreiben und die Urheberrechte von Autorinnen und Autoren gefeiert. Auf ihrer Website betont die UNESCO, wie wichtig gerade für Kinder und Jugendliche der Umgang mit Literatur ist: „Lesen fördert die Kreativität und die Konzentrationsfähigkeit, es erweitert den Wortschatz, steigert das Mitgefühl sowie den Gerechtigkeitssinn. Wer lesen kann, hat bessere Bildungschancen und eine bessere Aussicht auf erfolgreiche Erwerbskarrieren. Grundlage dafür ist der Zugang zu Büchern.“

Ein blondes Mädchen hat sich die Bettdecke über den Kopf gezogen und liest wie unter einem Zelt ein Buch.
© IMAGO/Westend61

Wie kann Leseförderung für Kinder und Jugendliche heute aussehen?

Während sich am Welttag des Buches verschiedene Stiftungen und Unternehmen dafür engagieren, Kinder und Jugendliche für das Lesen des gedruckten Buches zu begeistern, zum Beispiel durch ein Buchgeschenk, beobachten Forschende einen starken Wandel in den Lesegewohnheiten von Schülerinnen und Schülern. Mit ihren Erkenntnissen regen sie den Diskurs darüber an, welchen Stellenwert Literatur in der Schule und der Gesellschaft haben kann – und wie sich Kinder heute für das Lesen begeistern lassen.

Sabine Anselm, Professorin für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur und Leiterin der Forschungsstelle „Werteerziehung und Lehrerbildung“ der LMU, stellt in ihren Forschungs- und Praxisprojekten fest, dass Kinder und Jugendliche mit ihren Lesefähigkeiten in einer neuen Weise herausgefordert sind – auch weil sich ihr Medienrepertoire ständig erweitert. „Sie müssen nicht nur analog lesen können, sondern auch digital. Und wir erkennen, dass das keineswegs dasselbe ist. Wenn man das eine kann, beherrscht man deshalb nicht zwangsläufig auch das andere“, sagt Anselm.

So erfordere das digitale Lesen eine sehr viel bessere Konzentrationsfähigkeit. „Computer, Tablet und Handy haben ein höheres Ablenkungspotenzial. Und beim Lesen digitaler Texte sind wir weniger in Zeit und Raum orientiert. So ist es beim Scrollen auf einem Tablet zum Beispiel viel schwieriger, eine Textstelle wiederzufinden, als beim Blättern durch ein gedrucktes Buch. Das wirkt sich messbar auf die Behaltensleistungen aus.“ Einige Didaktikerinnen und Didaktiker empfehlen deshalb inzwischen eine Umkehr von der Tendenz, immer früher immer mehr digitale Inhalte in den Schulunterricht einzubinden. „Vieles weist darauf hin, dass es sinnvoll ist, sich in der Schule zunächst auf das analoge Lesen zu fokussieren – und dann später das digitale dazuzunehmen“, so Anselm.

Veränderung hin zur Mündlichkeit

Während die Menge der konsumierten Texte – von Chatnachrichten über Social-Media-Postings bis hin zu Zeitungsartikeln – durch die Hinwendung zum Digitalen allgemein eher zugenommen hat, hat sich der Zugang dazu verändert: „Bis vor zwei oder drei Jahren wurden diese Texte vor allem gelesen“, stellt Anselm fest. Inzwischen habe eine Verlagerung stattgefunden: „Das eigenaktive Lesen hat abgenommen, es verändert sich vieles in Richtung Mündlichkeit. Es wird mehr gehört, gesehen und vorgelesen – alles, was zum Beispiel auf Instagram als Text durchläuft, kann ich mir auch anhören. Im Messaging-Bereich wird weniger getippt, weil mehr Sprachnachrichten verschickt werden.“

Um den Schülerinnen und Schülern die Freude am Lesen zu vermitteln, sei es, wie sie in verschiedenen wissenschaftlichen Projekten beobachten konnte, vor allem hilfreich, sie zum eigenen Schreiben anzuregen, sie selbst Texte und Bücher herstellen zu lassen und auch den Zugang zu verbreitern – neben der Schullektüre aus dem Kanon sei es wichtig, mehr Vielfalt anzubieten, Graphic Novels etwa, Krimis oder Fantasy-Romane, die im Buchhandel reißenden Absatz finden, im Unterricht aber kaum berücksichtigt werden. „Der Lehrplan kann sich einer Lebensrealität nicht verschließen, die stark durch Medien dominiert ist“, sagt die Didaktikerin. „Literatur soll auch Vergnügen bereiten.“

Allgemein komme das ästhetische Lernen, das Lesen aus Freude an der Literatur, im Schulunterricht zu kurz. An diese Beobachtung schließen sich für Anselm größere Fragen an. „Wir müssen uns überlegen, welche Bildung wollen wir? Muss es immer eine ökonomische Ausrichtung sein?“ Ästhetik und Kreativität fänden in den vollen Lehrplänen immer weniger Berücksichtigung.

Lesen als ästhetisches Vergnügen

Dass der ästhetischen Leseerfahrung im Unterricht kaum Platz eingeräumt wird, bestätigt auch Herle-Christin Jessen, Professorin für Romanische Philologie an der LMU. Sie beobachtet, dass im Fremdsprachenunterricht literarische Texte häufig herangezogen werden, um Kompetenzen zu vermitteln – also etwa Grammatik zu üben, das Lese-, Hör- und Schriftverstehen zu schärfen oder interkulturelle Kompetenzen zu verbessern.

„Literatur ist im Schulunterricht oft Mittel zum Zweck – anhand der Texte werden Themen vermittelt, aber das Lesen, die ästhetische Gestaltung und Rezeption des Textes stehen zu wenig als Wert für sich“, sagt sie. Jessen beschäftigte sich aus fachwissenschaftlichem Interesse mit den vom Kultusministerium veröffentlichten „Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache“ im Schulunterricht – und stellte fest, dass der Literaturvermittlung an sich kein hinreichender Stellenwert zugemessen wird: In den über 300 Seiten umfassenden Bildungsstandards findet sich kein eigener starker Begriff von Literatur und Literarizität. Man beschränke sich auf eine Doppelformulierung, dass Themen und Kompetenzen an literarischen oder nichtliterarischen Standards vermittelt werden können.

„Wenn das so beliebig ist, kann man sich als Schüler schon fragen: Warum soll ich mich mit Camus‘ Der Fremde auseinandersetzen, wenn ich auch einen Zeitungsartikel lesen, eine Dokumentation schauen oder Zeitzeugenberichte über Fremdheit und Selbstentfremdung rezipieren kann?“

Literarisches Lernen: Was lerne ich an Literatur im Vergleich zu anderen Texten?

Jessen zitiert die Abiturientin Naina, die 2015 eine breite Debatte auslöste, als sie in einem Tweet beklagte, „keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen“ zu haben, aber in vier Sprachen eine Gedichtanalyse schreiben zu können. „Der Umgang mit Literatur wird damit als losgelöst von Alltagskompetenzen verstanden“, sagt Jessen. Sie hält dem entgegen, dass das ästhetische Lesen viel elementarere und komplexere Fähigkeiten vermitteln kann – weil es uns zum Beispiel erlaubt, die Komplexität der Welt zu erfahren, auszuhalten und zu erfassen.

„Der Geist von Literatur und Kunst ist es, Freiheit zu fördern und das Individuum dazu anzuregen, sich selbst und seine Position in der Gesellschaft zu begreifen: Wer bin ich, was will ich sein, wie kann ich das ausdrücken und wie transportiere ich mich zum anderen hin? Literarische Texte regen uns dazu an, die Komplexität der Welt sowie der zwischenmenschlichen Beziehungen nicht immer gleich auflösen zu wollen, sondern auch das Ambivalente und die Brüche anzuerkennen, das Nichtverstehen auszuhalten und nicht alles in Schubladen zu stecken.“ Fähigkeiten, die gerade im digitalen Alltag von kaum zu unterschätzender Bedeutung sein dürften.

Die PISA-Studie vom Dezember 2023 hat gezeigt, dass die Lesekompetenzen von Schülerinnen und Schülern erneut stark abgenommen haben. Einen Aktionstag wie den Welttag des Buches findet Jessen deswegen gut – vor allem, weil die Schülerinnen und Schüler in Workshops auch zum eigenen Schreiben angeregt werden und weil das Buchgeschenk, das sich Viert- und Fünftklässler in Buchhandlungen abholen können, dazu anrege, sich über das Gelesene auszutauschen. „Die Anschlusskommunikation kann enorm motivierend wirken und ein Zugehörigkeitsgefühl schaffen“, sagt sie.

Neuauflage derPoetikvorlesung an der LMU

Es ist ein Format mit Tradition: In diesem Sommersemester findet am Institut für Deutsche Philologie der LMU wieder eine Poetikvorlesung statt. Schon in den 1980er- und 1990er-Jahren wurden immer wieder Autorinnen und Autoren an die Universität eingeladen, um über ihr Schreiben, ihre Bücher und ihre Poetik zu sprechen. Zuletzt gab es 2007 eine einmalige Neuauflage einer solchen Poetikvorlesung, damals las Helmut Krausser.

Die Vorlesung soll, sagt LMU-Germanist Kay Wolfinger, die Forschung zur Gegenwartsliteratur am Verlags- und Buchstandort München weiter vorantreiben und das literarische Leben in Forschung und Lehre besser vermitteln. In diesem Jahr steht sie unter dem Motto „Werkstatt und Maschinenraum“: An drei Terminen gibt die Autorin Slata Roschal Einblicke in die Entstehung von Manuskripten und in die Schwierigkeiten, die ihr beim Verbreiten von literarischen Texten und Büchern begegnen.
Slata Roschal, 1992 geboren, ist mit zwei Lyrikbänden und zwei Romanen bekannt geworden, einer davon war für den Deutschen Buchpreis nominiert. Sie wird in drei Vorlesungen über die Bedeutung des Literaturbetriebs für ihre Arbeit sprechen, über Geld, Macht und Konkurrenz, über das kollaborative Entstehen von Büchern und über die besondere Herausforderung, sich dem Literaturmarkt zu stellen, wenn man Familie und Kinder hat.
Alle Veranstaltungen sind öffentlich, werden von Studierenden begleitet und in einem Blog reflektiert. Die Poetikvorlesungen mit Slata Roschal finden am 15., 23. und 29. Mai jeweils um 18:15 Uhr im Veranstaltungsraum des Philologicums statt.

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