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„Wenn Erfolg den Selbstwert setzt“

27.11.2023

Wie viel gut machen ist nicht mehr gut? Barbara Cludius erforscht den Hang zum Perfektionismus. Im EINSICHTEN-Interview erklärt sie, wie ein schädliches Gedankenkonstrukt mit verschiedenen psychischen Störungen zusammenhängt.

Die meisten von uns versuchen, ihre Sache so gut wie möglich zu machen. Wie perfekt dürfen wir sein und wann sprechen wir von Perfektionismus?

Cludius: Wir diskutieren in der Psychologie schon ziemlich lang darüber, was positiver oder negativer Perfektionismus ist. Neuere Ansätze gehen davon aus: Perfektionismus ist nie gesund, also nie positiv. Es geht eher darum, ein Streben nach Exzellenz von Perfektionismus zu unterscheiden. Streben nach Exzellenz bedeutet, ich habe hohe Standards und versuche, die Dinge so gut wie möglich zu machen. Dem liegt ein positiver Ansporn zugrunde. Wenn ich dann erfolgreich bin, bin ich darauf stolz und freue mich. Bin ich dagegen perfektionistisch veranlagt, sind die selbst gestellten Maßstäbe wenig flexibel, extrem hoch und schwer zu erreichen. Zudem hängt mein Selbstwert davon ab, ob ich sie erreiche. Erfolg oder Misserfolg macht mich als Person aus. Und dann gibt es noch eine Form des Perfektionismus, bei der die Fehlervermeidung im Vordergrund steht. Ich habe kein positives Ziel, sondern versuche vor allem, keinen Fehler zu machen – verbunden mit großer Angst zu versagen.

Porträt PD Dr. Barbara Cludius

„Manche Menschen haben gar keine perfektionistischen Tendenzen, ein Großteil in einem gewissen Maße", sagt Barbara Cludius.

© Florian Generotzky / LMU

Lässt sich Perfektionismus diagnostisch klar erfassen?

Cludius: Bei Perfektionismus gehen wir von fließenden Übergängen aus: Das heißt, letztlich bewegen sich alle irgendwo in einem Bereich zwischen gar nicht perfektionistisch veranlagt und extremem Perfektionismus. Wir gehen davon aus, dass vor allem sehr starker Perfektionismus zu psychischen Störungen führen kann. Es gibt einen häufig genutzten Fragebogen, der verschiedene Aspekte von Perfektionismus erfasst, unter anderem die Angst vor dem Versagen. Im Rahmen klinischer Studien wurde hierfür ein Cut-off vorgeschlagen, also ein Punkt, an dem eine bestimmte Anzahl von Kriterien erfüllt ist. Aber es gibt keine klare Grenze, ab der man sagen kann, jetzt ist es pathologisch.

Woran merkt man denn dann, dass es kippt?

Cludius: Perfektionismus hat negative Folgen. Das ist der Punkt, an dem ich es selbst merken kann, oder eben mein Umfeld. Wenn ich zum Beispiel mit einer Aufgabe gar nicht erst anfange vor lauter Angst, dass ich versagen könnte. Oder ich vermeide bestimmte Situationen, um mich nur ja nicht zu blamieren. Ich gehe also nicht zu einem Essen, weil ich mich bekleckern könnte. Oder ich gebe kein Interview aus Angst, mich ungeschickt auszudrücken. Oder ich bemerke, dass meine Stimmung schlecht ist und ich so Sätze im Kopf habe wie ,Das hab ich jetzt schon wieder nicht geschafft, ich bin ein Versager‘.

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Es geht also um problematische Gedankenkonstrukte, die dem perfektionistischen Verhalten zugrunde liegen?

Cludius: Das steckt im Konzept, dass der Erfolg den Selbstwert bestimmt. Perfektionismus ist ein kognitives Schema. Ob ich etwas gut oder schlecht mache, beziehe ich auf mich als Person. Und ich bin nur liebenswert, wenn ich Erfolg habe. Oder: Wenn ich in einer Sache keine absolute Leistung bringe, bin ich auf ganzer Linie ein Versager. Nehmen wir zum Beispiel unser Gespräch heute, zu dem ich fünf Minuten zu spät gekommen bin. Eine dysfunktionale Denkweise wäre, dass ich jetzt glaube, dass Sie mich im Gespräch nicht für voll nehmen können. Ich habe durch eine kleine Verspätung meine Kompetenz verspielt. Im Perfektionismus gibt es nicht diesen Graubereich, in dem ich mir sagen kann: Ich bin zu spät gekommen und das ist ein Zeichen dafür, dass ich heute manche Dinge nicht so gut organisiert habe. Trotzdem kann ich jetzt im Gespräch zeigen, dass ich mich bei dem Thema gut auskenne.

Welche Rolle spielt die Gesellschaft? Letztlich gilt es ja als positiv, möglichst perfekt und leistungsorientiert zu sein.

Cludius: Soweit ich weiß, gibt es dazu keine Untersuchung. Wir haben im Zusammenhang mit einer anderen Fragestellung bei einer kleinen Gruppe Studierender im Fach Psychologie bewertet, wie stark ihre Tendenz zum Perfektionismus ausgeprägt ist. Da lagen knapp über 50 Prozent über dem Cut-off. Das ist eine sehr hohe Zahl.

Es gibt Hinweise darauf, dass der Erziehungsstil der Eltern eine Rolle spielt

Welche Risikofaktoren kennt man noch?

Cludius: Auch hier kann ich keine konkreten Befunde liefern, eher Theorien, die leider nicht gut untersucht sind. Grundsätzlich wissen wir, dass dem Risiko für ein pathologisches Verhalten oder eine Störung immer eine genetische Komponente und eine Umweltkomponente zugrunde liegen. Bei der Genetik sind wir beim Perfektionismus ungefähr bei 30 Prozent – das ist nicht wahnsinnig viel. Der Rest geht auf Umwelteinflüsse zurück. Wir wissen, dass traumatische Erfahrungen wie Missbrauch das Risiko für viele Störungen und pathologische Verhaltensweisen erhöht, so auch für Perfektionismus. Und es gibt Hinweise darauf, dass der Erziehungsstil beziehungsweise das, was die Eltern vorleben, eine Rolle spielt. So übernehmen Kinder häufig das perfektionistische Verhalten ihrer Eltern. Ein weiterer Risikofaktor ist, wenn Eltern sehr leistungsorientiert unterstützen, insbesondere wenn sie das Kind bei Fehlern bestrafen oder abkanzeln. Da spielt dann später vor allem die Fehlervermeidung eine Rolle.

Perfektionismus steht im Zusammenhang mit bestimmten Störungsbildern. Bedingen sie sich gegenseitig?

Cludius: Manche Störungsbilder sind sehr eng mit Perfektionismus verbunden. Dazu zählen zum Beispiel Ess- und Zwangsstörungen. Dieses sehr Kontrollierte, das Streben danach, alles richtig zu machen und ein perfektes Bild nach außen abzugeben. Was zuerst da war oder ob sich beides gleichzeitig entwickelt hat, lässt sich daraus bisher nicht erklären. Bei der Depression gibt es Längsschnittstudien, die eher dafür sprechen, dass sich Perfektionismus und depressive Symptome gegenseitig bedingen. Im Gegensatz dazu haben wir selbst in einer Studie beobachtet, dass wir durch perfektionistisches Verhalten eine negative Stimmung auslösen konnten, aber nicht umgekehrt, was eher Hinweise dafür liefert, dass Perfektionismus ein Risikofaktor für depressive Stimmung sein könnte. Dazu passend gibt es Hinweise darauf, dass Perfektionismus die Therapie bei Depression erschwert und eine erfolgreiche Therapie der depressiven Symptome nicht zu einer starken Reduktion von Perfektionismus führt. Wahrscheinlich lassen sich Perfektionismus und Symptome nicht ganz trennen: So könnte Perfektionismus ein Weg sein, mit dem erlebten Kontrollverlust durch eine depressive Symptomatik umzugehen. Und gleichzeitig hat Perfektionismus auch Folgen, die sich auf Angst und Depressionen auswirken und diese verstärken.

Perfektionismus wirkt sich also immer unterschiedlich aus ...

Cludius: Dazu machen wir gerade mehrere Studien. Wir wollen die Rolle des Perfektionismus als sogenannten transdiagnostischen Faktor besser verstehen, also als einen Faktor, der bei verschiedenen Störungen eine Rolle spielt. Wir stellen uns die Frage, wie Perfektionismus mit verschiedenen Störungen zusammenhängt und diese vielleicht auch verbindet. Zusätzlich stellen wir uns die Frage, wieso Personen ganz unterschiedliche Symptome entwickeln, obwohl sie alle perfektionistische Tendenzen haben. Man könnte ja vermuten, dass alle Personen, die perfektionistisch sind, die gleichen Probleme entwickeln. Allerdings erleben die einen zum Beispiel Stimmungsverschlechterung, die anderen überkontrolliertes Essverhalten oder Zwänge. Wir wollen wissen, welche zusätzlichen Faktoren darüber entscheiden, ob jemand beispielsweise eine Zwangs- oder eine Essstörung entwickelt – obwohl alle Personen eine höhere Tendenz haben, perfektionistisch zu sein.

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Was passiert, wenn ich zur Geburtstagsfeier meines Kindes die Deko vergesse?

Wahrscheinlich haben sich manche Leser im einen oder anderen Beispiel wiedererkannt. Ein Grund zur Beunruhigung?

Cludius: Wenn ich einzelne Verhaltensmuster an mir wiedererkenne, heißt das nicht, dass meine perfektionistischen Tendenzen problematisch sind und psychische Symptome hervorrufen können. Manche Menschen haben gar keine perfektionistischen Tendenzen, ein Großteil in einem gewissen Maße. Es ist sicher gut, da hinzuschauen, aber man muss deswegen nicht in Panik verfallen. Und es gibt Phasen im Leben, in denen eine höhere Kontrolle mehr Sicherheit gibt. Die wichtige Frage ist: Leide ich darunter? Denn wenn es mich nicht beeinträchtigt, dann ist es einfach so. Wir machen nicht immer nur Dinge, die emotional gut für uns sind. Aber vielleicht sind sie für den Moment die beste zur Verfügung stehende Lösung.

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Und wie entkommt man der Perfektionismusfalle, wenn tatsächlich Tendenzen da sind?

Cludius: Der erste Schritt ist, zu beobachten. Zum Beispiel: Wenn ich viel prokrastiniere, weil ich Angst vor dem Versagen habe, dann kann ich mich fragen, in welchen Situationen es kommt und mit welchen Gedanken und Gefühlen das verbunden ist. Der zweite Schritt – und da stellt sich die Frage, wie gut man das alleine kann – ist, das Konstrukt auseinanderzunehmen: Wenn ich mein Ziel nicht erreicht habe, bedeutet das dann, dass ich in allen Bereichen meines Lebens versage? In welchen Bereichen bin ich dafür gut oder erfolgreich? Im nächsten Schritt kann ich meine Gedanken im Rahmen von Verhaltensexperimenten auf die Probe stellen. Wenn ich zum Beispiel prokrastiniere, könnte ich mir eine Deadline setzen und bis dahin muss mein Text fertig sein und ich gebe ab. Was passiert? Was kriege ich für eine Rückmeldung? Oder wenn ich die Tendenz habe, immer alles bis ins letzte Detail zu kontrollieren und zu optimieren, könnte ich in Situationen ausprobieren, was passiert, wenn ich das nicht tue. Also etwa: Was passiert, wenn ich für die Geburtstagsfeier meines Sohnes den Kuchen kaufe und keine Deko aufhänge? Und wie geht es mir emotional damit? Letztlich ist die Idee, den Selbstwert vom perfektionistischen Verhalten zu entkoppeln. Am Ende kann ich hoffentlich sagen: Manche Dinge schaffe ich eben nicht so, wie ich es mir vorstelle, aber ich bin gut so, wie ich bin.

Interview: Stefanie Reinberger

Porträt PD Dr. Barbara Cludius

© Florian Generotzky / LMU

PD Dr. Barbara Cludius ist Akademische Rätin auf Zeit am Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Fakultät für Psychologie und Pädagogik der LMU und psychologische Psychotherapeutin. 2022 war Barbara Cludius Junior Researcher in Residence am Center for Advanced Studies (CAS) der LMU. Im Jahr 2023 wurde sie mit dem Prinzessin Therese von Bayern-Preis ausgezeichnet.

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