Landeskunde I

Karte Japan

© Aki Naritomi

Wenn man in Europa Japanisch lernen möchte, braucht man unbedingt landeskundliche Kenntnisse. Auf dieser Seite finden Sie deshalb Erfahrungsberichte über Japan, Fotos, außerdem kurze Vorträge zur japanischen (Alltags-)Kultur. Willkommen zu einer kleinen virtuellen Reise, die Sie an insgesamt sechs Plätze führen wird! Texte und Bilder stammen übrigens von einer Veranstaltung zur Landeskunde im Internationalen Begegnungszentrum der Wissenschaft (IBZ) am 01.03.2006 , und ich denke, diese sind ein richtiger Beweis dafür, dass etwas Wesentliches immer weiter als solches sein Leben fortsetzt, während Zeit und Raum, alt und neu, miteinander in der Natur zusammenschmelzen.

Tokyo

Tokyo bei Nacht, Stadtteil Shinjuku

© Aki Naritomi

Meine Damen und Herren,

am Anfang unserer Reise steht – natürlich – Tokyo, die Hauptstadt. Sie ist Teil des schmalen Siedlungsgebiets, in dem rund zwei Drittel der Japaner leben und liegt auf der größten der vier japanischen Hauptinseln: auf Honshu.

Vielleicht beginne ich am besten mit den Klischees: Tokyo ist ein Moloch, das sich tief in die Landschaft frisst. Eine Ansammlung aus Beton, ohne wirkliches Zentrum. Ein Meer aus grellen Neonlichtern, sobald die Dunkelheit einsetzt. Eine Herausforderung für die Sinne.

Blick auf Tokyo, Stadtteil Kasumigaseki

© Aki Naritomi

Die größte Stadt der Welt. Ein lauter Flecken, auf dem sich Millionen Menschen drängen. Und doch ist Tokyo letztlich von überwältigender Sanftmut – gewaltlos und höflich.

Platz vor dem Bahnhof Shibuya

© Aki Naritomi

Zu meinen Lieblingsplätzen in der Stadt zählt die Straßenkreuzung vor dem Bahnhof Shibuya. Dort wälzen sich, wenn die Ampel auf Grün schaltet und dazu der synthetisch-erzeugte Ruf eines Kuckucks ertönt, wahre Massen von Fußgängern über den Asphalt. Doch alles geht geordnet vonstatten, beinahe unaufgeregt, in sanften Wellenschlägen, die den Einzelnen in eine rythmische Bewegung aufnehmen. Kein Drängeln, kein Schubsen.Tokyo fasziniert mich aber auch in seiner Endlosigkeit. Man kann hier tagelang durch die Straßen streifen – und immer wieder neues entdecken. Die Schönheit liegt dabei eher im Detail.

Straßenszene in Tokyo

© Aki Naritomi

Tokyo ist schon von manchen eine hässliche Stadt genannt worden. Aber ich finde, das stimmt nicht. Der deutsche Regisseur Wim Wenders ("Buena Vista Social Club") beschreibt die Atmosphäre der Stadt sehr treffend: "Tokyo überwältigt mich mit seinen Extremen: völlig materialistisch auf der einen, überraschend spirituell auf der anderen Seite. Die allgegenwärtigen Tempel, Schreine und Friedhöfe stehen in starkem Kontrast zu den Banken, Einkaufszentren und Kaufhäusern. Und in dieser Gleichzeitigkeit scheint kein Widerspruch zu bestehen. (...) Tokyo ist (außerdem) eine Stadt voll von unglaublichen Geräuschen. Ich liebe diesen endlosen Soundtrack. Ich bin süchtig danach - nach dem Lärm aus den Spielsalons. (...) Und ich liebe den Geruch von Tokyo, seltsam süß und verraucht und feucht." (In: Ben Simmons: "Tokyo Desire", Shogakukan 2000).

Spielsalon Pachinko

© Aki Naritomi

Tokyo ist auch ein Rätsel. Glauben Sie mir: Man kann sich in wenigen Städten der Welt so gut verfahren und verlaufen wie in dieser. Viele Plätze und Straßen ähneln sich zum Verwechseln. Tatsächlich wahr: Oft gibt es zudem keine Straßennamen, von sinnvoller Nummerierung ganz zu schweigen. Wer eine bestimmte Adresse sucht, braucht eine detaillierte Wegbeschreibung.

Bei meinem letzten Besuch in Tokyo konnte ich bei Bekannten übernachten. Allein: Ich musste den Weg zu ihrer Wohnung finden. Die erste Hürde war, den nächstgelegenen Bahnhof auf dem U-Bahn-Plan auszumachen. Das Tokyoter-U-Bahn-Netz ist ein dickes Knäuel mit vielfarbigen Fäden – und Bahnhofsnamen, die in deutschen Ohren alle gleich klingen: Akasaka, Asakusa, Asagaya, Akebonobashi, Akasakamitsuke... usw. Jeder Bahnhof hat noch einmal viele verschiedene Ausgänge, die einen manchmal ans andere Ende der Stadt katapultieren. Und genau das passierte bei meinem letzten Besuch: Ich nahm den falschen Ausgang, folgte - natürlich auf falschem Raster - der Wegbeschreibung, die mir mein Bekannter vorher per E-Mail geschickt hatte – und entfernte mich also immer weiter von meinem Ziel, bis ich irgendwann, vielleicht nach einer dreiviertel Stunde, verzweifelt beschloss, ihn von einem öffentlichen Telefon aus anzurufen. Japaner haben Gott sei Dank alle ein Handy. Mein Bekannter war also erreichbar. Er empfahl mir, zuerst den Weg, den ich genommen hatte, exakt zurückzugehen. Dann könne man weitersehen, sagte er. Ich war in der Zwischenzeit aber ein paar Dutzend Mal um Ecken gebogen und hatte, offen gesagt, vollkommen die Orientierung verloren. Zudem wurde es langsam dunkel.

Sie werden wahrscheinlich sagen: Hätte ich nicht einfach nach dem Weg fragen sollen? Nun ja: Meine Japanisch-Kenntnisse sind leider arg begrenzt. Und außerdem: Was hätte ich sagen sollen? Etwa: Ich suche irgendeine Wohnung, in irgendeinem Haus, das hier irgendwie ganz in der Nähe sein muss? Klingt nicht überzeugend, oder? Ich sprach dann trotzdem drei Fußgänger an – junge Männer, ein wenig älter als ich –, nannte ihnen den Namen der U-Bahn-Station. Ich glaube, sie wussten gar nicht, wovon ich sprach. Wiegesagt: Akasaka, Asakusa, Asagaya – die Namen ähneln sich, und wer eine Silbe auch nur ein bisschen anders betont, wird schon nicht mehr verstanden.

Das Problem ist nur: Japaner sind oft zu höflich, einfach "Nein" zu sagen. Die Passanten, die ich auf dem Weg ansprach, senkten ihren Blick, machten murmelnde Geräusche, blickten suchend umher, so, als liege die U-Bahn-Station vielleicht in Sichtweite auf der anderen Straßenseite. Dann nahmen sie mich an der Hand und schleppten mich in einen nahen 24-Stunden-Supermarkt, einen Konbini. Dort wurde meine Bitte mit dem Mann hinter der Kasse und einigen Kunden, die sich gerade Mikrowellen-Fertiggerichte und Bier in der Dose kauften, ausführlichst erörtert. Bestimmt zehn Minuten lang. Ich stand daneben und war – Sie kennen den gleichnamigen Film vielleicht, der vom westlichen Kulturschock in Japan erzählt –: lost in translation. Viel unangenehmer aber war die Situation für jene, die ich um Hilfe gebeten hatte, also für die Japaner. Sie fühlten sich verpflichtet, mich nicht eher gehen zu lassen, ehe mein Rätsel nicht gelöst war. Wir verließen den Supermarkt wieder, standen dann noch eine ganze Weile davor. Ratlosigkeit in ihren Gesichtern wie in meinem.

Was bloß tun?

Erneut vergingen Minuten. Die Gruppe beriet, und beriet, und beriet. Offensichtlich musste ein einstimmiges Ergebnis erzielt werden – erst dann wollte man wieder mit mir sprechen.

Dann endlich, doch noch die Erlösung: Ein anderer Japaner, von ihnen angesprochen, war des Englischen mächtig, wusste den Weg, zeigte ihn mir. Der U-Bahnhof lag übrigens nur zwei Straßen entfernt. Ich hatte – und muss an dieser Stelle eine abgenutze Metapher benutzen – den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen. Ich glaube, das war gewissermaßen ein sehr "tokyoterisches" Erlebnis. In all ihrer Gewaltlosigkeit und Geborgenheit, ist die Stadt nämlich doch ein echtes Abenteuer.

Ishibashi

Bis hierher habe ich aber nur ein unvollständiges Bild von Japan gezeichnet. Denn: Wer Tokyo für Japan hält, der glaubt auch, München sei Bayern. So großstädtisch-chaotisch Japan sein kann, so liebenswert provinziell ist es, fernab seiner Metropolen. Im Jahr 2003 nahm ich zwei Wochen lang an einem Austauschprogramm teil und lebte in einer Gastfamilie in Ishibashi, einer kleinen Stadt, zwei Stunden nördlich von Tokyo. Seit einiger Zeit heißt Ishibashi, weil es mit zwei Nachbarorten zusammengelegt wurde, übrigens offiziell Shimotsuke.

Ishibashi

© Aki Naritomi

Ishibashi - das sind: einstöckige Einfamilienhäuser, Reisfelder, eine zentrale Straße mit Läden und dem Rathaus der Gemeinde, außerdem eine nahe Nissan-Fabrik. Ishibashi – das ist die Stadt der "Gebrüder Grimm". Die Gulli-Deckel dort zeigen Rotkäppchen und den bösen Wolf – und im Stadtpark stehen wetterfeste, zweidimensionale Märchenfiguren aus Kunststoff.Aber ich möchte Ihnen von meiner Gastfamilie erzählen, davon, wie moderne Japaner es mit der Religion halten. An einem Wochenende dieser vierzehn Tage in Ishibashi fuhr meine Familie mit mir in einen wunderbaren Ausflugsort. Es gibt dort, tief in den Bergen, viele heiße Quellen, die übrigens zum besten gehören, was Japan zu bieten hat.

Ishibashi

© Aki Naritomi

Nach dem – geschlechtergetrennten – Bad in einer dieser Quellen, besichtigten mein Gastvater, meine Gastmutter, die zwei Töchter und der Schwiegersohn mit mir einige buddhistische Tempel und shintoistische Schreine. Nur zur Erklärung: Der Shintoismus, eine Naturreligion, ist eine originär japanische Erfindung. Den Buddhismus haben die Japaner dagegen vor Jahrhunderten aus China "importiert".

Tempel Ishibashi

© Aki Naritomi

Doch zurück in den Ausflugsort. Dort, in einem der Tempel, überraschten mich zwei Dinge.

Zum einen ging die von einem Mönch geleitete Besichtigung mit ihren historischen Informationen nahtlos in ein quasi erleuchtetes Shoppingprogramm über. Mitten in dem schönen Holzbau, der den Blick auf einen See und die Berge freigab, also direkt im Tempel, saß ein zweiter Mönch vor einem Tisch voller religiöser Souvenirartikel. Seine Finger glitten zu seinen dahin gemurmelten Anpreisungen über Glücksanhänger und Schmuck, wie ich es sonst nur im Werbeverkaufsfernsehen gesehen habe.

Zum anderen warf meine Gastmutter, eine kleine Frau mit lockigen Haaren und großer Brille, die für Oliver Kahn schwärmt, und die ich bis dahin, um es mal zaghaft auszudrücken, als nicht besonders religiös erlebt hatte, wenig später mehrere Yen-Münzen in einen Holzkasten, faltete ihre Hände und betete konzentriert, ja geradezu inbrünstig über eine Minute – für meine gesunde Rückkehr nach Deutschland, wie ich später erfuhr.

Es ist, wie wir es zuvor schon bei Wim Wenders gehört haben: Das pragmatische und das spirituelle begegnen sich in Japan ohne große Berührungsängste.

Fukuoka

(Vortrag von Tomohisa Hiramatsu, Germanistik-Doktorand, Universität Kyushu, derzeit Auslandsaufenthalt an der LMU)

So wie der lange, dunkle Winter langsam endet und dann der frische, schöne Frühling kommt, so endet endlich auch mein erstes Semester in München – mit einigen Klausuren und einem deutschen Fest: dem Fasching. Heute möchte ich durch diese Themen – einer Klausur und einem Fest, allerdings einem japanischem – etwas über meine Heimatstadt Fukuoka erzählen.

Für mich war eine der Klausuren in Deutschland sehr merkwürdig: Nachdem der Dozent uns die Blätter der Klausur ausgehändigt hatte, gab es bei uns Studenten einige Verwirrung. Ein Kommilitone sprang auf und rief: „Hallo, Herr Professor! Aber das sind ja fast die gleichen Fragen, die Sie uns bei der letzten Übungsklausur gegeben haben! “ – „Stimmt,“ antwortete der Professor tief und langsam, „aber die Antworten haben sich geändert.“ Naja, also, damals war ich zuerst fassungslos, denn ich habe mich in Fukuoka daran gewöhnt, dass die Fragen und die Antworten ganz und gar die Gleichen sein sollten, wenn der Lehrer die gleiche Klausur ausgibt. Die Studenten aus Fukuoka hätten in einer Situation, wie ich sie hier in München erlebt habe, einfach geschwiegen und die gleichen Antworten ein zweites Mal gegeben. Natürlich wären sie dann davon ausgegangen, eine gute Note zu bekommen. Aber wäre der Erfolg ausgeblieben, hätte sich trotzdem niemand beklagt – aus Stolz. Ich denke, dieses Verhalten ist eine Beispiel für das, was ich die Gegensätzlichkeit der Fukuokaner nenne.

Vielleicht hat dieser typische Charakterzug der Bewohner von Fukuoka einen geographischen und historischen Ursprung: In Fukuoka gibt es nicht nur die Berge, sondern auch Ebene und Meer. Es ist so angenehm, in Fukuoka zu wohnen, dass dort genauso viele Leute leben wie in München: 1,3 Millionen Menschen. Das warme Fukuoka liegt im südlichen Teil von Japan. Wenn das Wetter schön ist, kann man über das Meer bis nach Korea sehen, und gleich dahinter liegt China. Deswegen war Fukuoka früher Japans Tor zur Welt und wurde sogar „Dazaifu“, große Hauptstadt, genannt. Die Leute handelten dort energisch und freundlich mit Fremden, kämpften aber gleichzeitig gegen ausländische Feinde für ein eigenes Land. Das war vor etwa 1000 Jahren.

Heutzutage gelten Tokyo und Osaka als die zwei wichtigsten Großstädte Japans. Tokyo ist natürlich der Regierungssitz. Und, wie in den meisten Metropolen der Welt, sind die Leute dort eher kühl. Osaka ist ein Zentrum des Handels, wo es viel gutes Essen gibt und einen Dialekt, der sehr energisch klingt. Die Leute in Osaka sind wahre Sprachkünstler.

Fukuoka vereint die guten Seiten von Tokyo und Osaka – und schafft dabei eine eigentümliche, dritte Kultur. Die Menschen dort verbinden die heftige, ursprünglichere Lebensweise des Landesinneren mit dem kühlen Stolz der früheren "Hauptstädter".

Ein gutes Beispiel dafür ist eine Begegnung, die ich einmal mit einem Busfahrer in Fukuoka hatte. Der eigentlich ruhige Mann saß, wie natürlich jeden Tag, vorne auf dem Fahrersitz, als sich plötzlich ein Auto vor seinen Bus drängte. Daraufhin wurde der Busfahrer sehr wütend und schimpfte, unglaublich laut: „Scheiße! Was machst du denn? Hast du keine Augen? Dieses Arschloch!“ (Ich kann leider nicht alles übersetzten, weil ich die Worte auf deutsch nicht kenne). Gleich danach entschuldigte er sich aber ganz ruhig bei seinen Fahrgästen: "Es tut mir leid, dass ich meine Worte ein wenig schlecht ausgewählt habe." In Tokyo hätte er wahrscheinlich nie geschimpft. In Osaka hätte er sich wahrscheinlich nie entschuldigt. Aber in Fukuoka gibt es eben diese sonderbare Gegensätzlichkeit oder Polarität.

Auch an einem bestimmten Fest in Fukuoka kann man diese Polarität beobachten. Das Fest heißt „Dontaku“; dieser Name stammt von dem niederländischen Wort „Zondag“. Das Fest hat eine lange Tradition, heißt aber erst seit dem Zweiten Weltkrieg so, wie es heute heißt. Die Namensänderung sollte einen Neuanfang symbolisieren. Jeden Frühling verkleiden sich zu "Dontaku" über 30000 Menschen und tanzen dann den ganzen Tag auf den Straßen. Zwei Millionen Leute schauen diesem Umzug, der an Karneval oder Fasching in Deutschland erinnert, zu – und genießen ihn sehr. Wenn Sie in Japan einmal einen „Samurai“ oder eine „Geisha“ sehen möchten, wäre es gut, einfach dieses Fest in Fukuoka zu besuchen. Es findet jedes Jahr vom 3. bis 5. Mai statt.

Es gibt übrigens noch andere Feste in Fukuoka. Eines davon heißt „Yamakasa“ und wird im Sommer gefeiert. Dabei tragen etwa 30 starke Männer einen schweren Wagen mit Puppenfiguren auf ihren Schultern. Sie laufen ungewöhnlich schnell – in etwa 30 Minuten legen sie mit ihrem "Kampfwagen" fünf Kilometer zurück. Die Männer tragen einen "Hundosi", eine Art "Lendenschurz", wie ihn auch Tarzan anhat. Die Bewohner des Studentenwohnheims der Kyushu-Universität begehen übrigens ein schreckliches, aber komisches Studentenfest, das dem "Yamakasa" nachempfunden ist. Aber wegen des schrecklichen Charakters dieses Fests, und weil mir die Zeit fehlt, kann ich Ihnen an dieser Stelle leider nicht mehr darüber erzählen. Wenn Sie Lust haben, lassen Sie doch einfach Ihrer Fantasie freien Lauf. Ansonsten empfehle ich Ihnen, mal nach Fukuoka zu fliegen. Dann können Sie vielleicht einen Blick auf die nur mit Unterwäsche bekleideten, vor dem Studentinnenwohnheim herumlaufenden Männer werfen. Mehr kann ich Ihnen aber wirklich nicht verraten.

Saga und Yanagawa

Kinder in Kanal in Yanagawa

© Aki Naritomi

(Björn Rosen)

Mit Kyushu, einer kleineren, etwas verschlafenen Hauptinsel, auf der auch Fukuoka liegt, verbinde ich vor allem eines: ein Erdbeben. Es war das erste Erdbeben meines Lebens. Japan ist in dieser Hinsicht nicht gerade gesegnet. Das Land wird von allen denkbaren Naturgewalten heimgesucht. Regelmäßig. Es ist wohl kein Zufall, dass Godzilla aus Japan kommt. Tsunami, um ein anderes Beispiel zu nennen, ist eines der wenigen Wörter, das wir Deutsche aus dem Japanischen in unsere Sprache übernommen haben. Außerdem müssen die Japaner mit Taifunen leben. Und eben mit Erdbeben.

Auf Kyushu sind Erdbeben eigentlich sehr viel seltener als zum Beispiel auf Honshu. Dennoch reagierten die Menschen um mich herum bei dem Erdstoß routiniert, fast gelassen. Wir – wieder war es eine Delegation Münchner Studenten – waren zu Besuch in der kleinen Stadt Yanagawa, unweit von Fukuoka, unweit auch von Saga, einer Stadt, von der später noch die Rede sein wird. Yanagawa ist eine Art kleines Venedig – nun ja, durchzogen jedenfalls von feinen Kanälen mit redseligen Gondelführern, die auf Nachfrage Kinderlieder singen. Die Eltern von Yoko Ono, der Witwe John Lennons, haben dort übrigens ein Haus.

Als die Erde also für gut zwanzig Sekunden bebte, war ich gerade dabei, in eine Gondel einzusteigen, und dachte im ersten Augenblick, das Wasser des Kanals sei unruhig, deshalb schwanke der Steg. Ein Blick auf das zweistöckige Haus gegenüber aber verriet: Hier war alles, einfach alles in Bewegung. Umso erstaunlicher die Reaktion: Zwar gab es ein paar Schreie, sonst aber blieb es ruhig, obwohl in Yanagawa an diesem Tage – es war ein traditioneller Festtag – viele Menschen auf den Beinen waren. Im nächsten Augenblick, es mögen 20 Sekunden gewesen sein, war der Schreck vorbei. Einige Straßen mussten gesperrt werden. In Yanagawa waren Rohre gebrochen und Steinstatuen umgefallen, in Fukuoka war die Glasscheibe eines Hochhauses in die Tiefe gestürzt. Und das Erdbeben gab den Japanern bloß noch Stoff für ein wenig Small Talk und für Spekulationen über Nachbeben.

Uns Deutschen saß der Schock dagegen eine ganze Weile in den Knochen, auch der ungewohnte Nervenkitzel. Die Japaner aber haben lernen müssen, mit den Naturgewalten zu leben. Und sie richten sich stoisch darauf ein.

Wir wurden übrigens am gleichen Tag noch interviewt und standen im Zentrum der Aufmerksamkeit der lokalen Presse. Mit dem Erdbeben hatte das aber wenig zu tun.

Aki Naritomi vor der Statue Aki Naritomi

© Aki Naritomi

In Saga, einer größeren Kreisstadt in der Region, war das vielleicht berühmteste Kind der Stadt heimgekehrt – Aki Naritomi, heute Lektorin für Japanisch an der LMU. Sie stand einst, als kleines Kind, ihrem Vater, einem Bildhauer, Modell. Die Statuen, die dabei entstanden, kann man noch heute in der Region finden.

Okinawa

Ochsentaxi auf der kleinen Insel Taketomi, die zu Okinawa gehört

© Aki Naritomi

Und damit zur vorletzten Station unserer kleinen Reise – nach Okinawa. Wo liegt Okinawa?

Geographisch: Ganz, ganz weit unten, also im Süden, auf dem Weg nach Taiwan. Gefühlsmäßig aber: sehr nah bei Hawaii – und sehr weit entfernt von Tokyo. Es soll sogar Japaner und Japanerinnen geben, die die weit zerklüftete Inselkette, die einst als Ryukyu-Reich jahrhundertelang eine ganz eigene Kultur entwickelte, gar nicht mehr zu Japan zählen. Die Menschen auf Okinawa sind dunkler und ein wenig entspannter als der Rest des Landes. Das Klima ist subtropisch. Und die weißen Strände heben sich wunderbar vom Blau des Meeres und des Himmels ab. Nirgendwo auf der Welt werden Menschen so alt wie auf Okinawa.

Medizinerinnen und Mediziner meinen, das liege am gesunden Essen. Nun ja. Zu den lokalen Spezialitäten, die hier serviert werden, gehören Schweineohren. Und das ist ganz wörtlich gemeint. Für den Fall, dass Sie mal probieren wollen: Schweineohren sind zäh, von der Konsistenz überlagerter Gummibären, und schmecken nach gar nichts. Nahezu heilig sind den Menschen auf Okinawa dagegen andere Tiere: die Ochsen. Ochsen-Taxis gehören hier auf der ein oder anderen Insel tatsächlich zu den lokalen Verkehrsmitteln.

Übergabe Blechschild

© Aki Naritomi

Auf Okinawa habe ich übrigens noch etwas ganz anderes gelernt. Einem Mitarbeiter der dortigen Universität überreichten wir als Dank für seine Hilfe ein kleines, scherzhaftes Geschenk aus München – ein Blechschild, auf dem in gelber Schrift auf blauem Hintergrund stand: "Bier und Weiber sind die besten Zeitvertreiber". Glauben Sie mir, es ist erstaunlich: Wenn man diesen Spruch in die elegante und höfliche japanische Sprache übersetzt, klingt er fast wie eine konfuzianische Weisheit. Soviel zum Thema "Japan ist anders".

Sapporo

(Vortrag von Kengo Kurosaka, VWL-Student, Universität Hokkaido, derzeit Auslandsaufenthalt an der LMU)

Guten Abend meine Damen und Herren!

Ich freue mich sehr, Ihnen heute von Japan und insbesondere von meiner Heimatprovinz Hokkaido erzählen zu dürfen.

Zuerst möchte ich Sie fragen: Was haben Sie für Vorstellungen von Japan, was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie das Wort Japan hören?

Der Fujiyama, eine Geisha, ein Samurai?

Tut mir leid, aber vergessen Sie das alles bitte! Hokkaido, die nördlichste der vier japanischen Hauptinseln, ist eine völlig andere Welt, die erst vor 150 Jahren erschlossen wurde. In der Tat: Auch meine Urgroßeltern kamen aus dem „Mainland Japan“. Ich bin felsenfest davon überzeugt, daß die Einwohner von Hokkaido bis heute den Pioniergeist besitzen, mit dem sie damals den starken Schneefall, die schlechten Ernten und die Braunbären bekämpft haben. Und, ehrlich gesagt: Eigentlich kämpfen wir noch immer.

Typische Hokkaidoites - also die Einwohner von Hokkaido – kann man zum Beispiel in meiner Universität, der “Hokkaido University”, treffen. Nur die Hälfte der Studenten dort kommt aus Honshu. Ich frage sie immer, warum sie sich dazu entschlossen haben, dort zu studieren, wo man sich vielleicht wie im Ausland fühlt, ohne einen Pass zu brauchen. Die erstaunlichste Antwort ist immer: „Ich war mir nicht im klaren, ob ich nach Hokkaido oder in die USA gehen soll“. Aber jetzt verstehe ich die Studenten. Sie scheinen sich regelrecht zu befreien, von vielen aufgezwungenen Traditionen Japans, wenn sie bei uns in Hokkaido sind.

Lassen Sie mich erzählen von einem Ritual, das Studenten von außerhalb Hokkaidos im April zelebrieren, wenn unser Schuljahr beginnt. Im Frühjahr lade ich gewöhnlich Studienanfänger zur BBQ Party – und dann frage ich sie: “ Habt Ihr Euch eigentlich versichern lassen?“ Einige antworten dann immer ganz perplex: „Was sollen wir denn versichern?“ „Euer Leben!", antworte ich. "In Hokkaido braucht man eine besondere Versicherung, die auch Bärenangriffe einschließt!“ Solche Gespräche kann man überall auf dem Campus hören.

Obwohl Sapporo, die wichtigste Stadt von Hokkaido, zwei Millionen Einwohner hat, wirkt sie vom Himmel aus gesehen, ganz grün. Eigentlich stimmt es aber nicht, wenn man sagt, es gebe viel Grün in Sapporo. Eigentlich müsste es heißen: Es gibt viel Sapporo im Grünen. Im Sommer gehen wir zum Campen, Radfahren, Kanufahren, und viele dieser Sportarten sind gar nicht weit weg von der Stadt zu erleben. Hokkaidoites, die es ins Freie zieht, können den Sommer im Juli sogar genießen, denn es gibt da keine Regenzeit in Hokkaido, im Gegensatz zur Insel Honshu.

Im Winter ist es schon ein wenig kalt, zugegebenermaßen. Aber keine Angst, Hokkaidoites wissen wie man auch diese Jahreszeit genießen kann. Wir fahren gerne Ski, laufen Schlittschuh, gehen Eisfischen.... Und im allgemeinen hat jedes Haus, jedes öffentliche Transportmittel und jedes Einkaufszentrum eine gut funktionierende Heizung. Manchmal kritisiert man uns als „Hokkaidoites, die kaltes Bier aus dem Kühlschrank in gut klimatisierten Räumen trinken“.

Lebensmittel aus Hokkaido sind sehr bekannt in Japan, nicht nur wegen ihrer Frische. Unsere Meerestiere und unser Gemüse sind so gut, daß ich sie in Honshu richtig vermisse. Die Kartoffeln können leicht mit den bayerischen mithalten, und der Fisch ist sogar viel besser, als der aus den Mittelmeerländern.

Zu guter Letzt empfehle ich Ihnen Hokkaido zu besuchen, insbesondere und vielleicht zuerst Sapporo – und gleichzeitig mit dem Stereotyp aufzuräumen vom feuchten Japan und den bescheidenen, verschlossenen Japanern.