Von Hitler gelernt
Von
Martin Schulze Wessel
Großmächte verhandeln über den Kopf eines bedrohten Staates hinweg und setzen Bedingungen, die faktisch einer Kapitulation gleichkommen: Worin Trumps 28‑Punkte‑Plan an das Münchner Abkommen von 1938 erinnert – und worin nicht.
„München lässt grüßen“ lautete der oft gehörte Stoßseufzer nach der Verkündung des 28-Punkte-Plans für die Beendigung des russisch-ukrainischen Kriegs. Trumps Versuch, die Ukraine ultimativ zur Annahme von Bedingungen zu zwingen, die Washington zuvor exklusiv mit dem Kreml ausgehandelt hatte, erinnert in der Tat an den September 1938, als sich Großbritannien, Frankreich und Italien mit Deutschland über die Regelung der sogenannten Sudetenkrise verständigten.
Als Ergebnis des sogenannten Münchner Abkommens, das in Wirklichkeit ein Diktat war, musste die Tschechoslowakei ihre überwiegend deutsch besiedelten Grenzgebiete an das Deutsche Reich abtreten, ohne an den Verhandlungen beteiligt worden zu sein. Hitler triumphierte, und der verkleinerte und gedemütigte Staat der Tschechen und Slowaken stürzte in eine tiefe Krise.
Die USA setzen sich über die Interessen der Ukraine hinweg
Ohne die Tschechoslowakei über die Tschechoslowakei zu verhandeln, entsprach dem Muster, mit dem der 28-Punkte-Plan zwischen den USA und Russland formuliert wurde. In beiden Fällen taten sich westliche Mächte mit einem Aggressor zusammen, um eine bedrohte Demokratie zum Verzicht zu zwingen. In beiden Fällen sind die Bedingungen für den bedrohten Staat so formuliert, dass sie einer Kapitulation gleichkommen: Die Tschechoslowakei verlor mit dem Abkommen der europäischen Mächte ihre Grenzgebiete und damit auch ihre gut ausgebauten militärischen Festungsanlagen. Die Ukraine müsste, falls der 28-Punkte-Plan Wirklichkeit würde, gut befestigte Gebiete im Donbass räumen, ihre Armee verkleinern, auf bestimmte Waffenarten verzichten und bliebe dauerhaft aus der NATO ausgeschlossen.
Eine andere vorauszusehende Parallele bezieht sich auf den Zustand der Demokratie. Deren Erschütterung wäre in der Ukraine nach einer tiefen Verletzung ihrer Souveränität ebenso unvermeidlich, wie sie es in der Tschechoslowakei 1938 war, die nach dem Münchner Abkommen in eine autoritäre Richtung abglitt.
Auch wenn inzwischen Gespräche mit europäischen und ukrainischen Unterhändlern begonnen haben, ist der Ton doch durch den ursprünglichen 28-Punkte-Plan gesetzt. Kaum ist noch zu bezweifeln, dass die amerikanische Politik bereit ist, sich über die Interessen der Ukraine – und auch der Europäer – hinwegzusetzen. Insofern ist die München-Analogie schwer zu übersehen.
Hitlers Hass auf Prag
Aber es gibt einen großen Unterschied in der Situation der bedrängten Staaten Tschechoslowakei und Ukraine: Hitler konnte sich bei seinem Plan, die Tschechoslowakei zu zerschlagen, auf eine tatsächlich bestehende Unzufriedenheit der nationalen Minderheiten stützen. Zwar verlangten die Deutschen und Ungarn der Tschechoslowakei mehrheitlich nicht die Aufteilung des Staates, in dem sie lebten; aber es gab größer werdende Bevölkerungsgruppen, die ihre Aufmerksamkeit, Hoffnungen und Loyalitäten nach Berlin und Budapest hin ausrichteten. In der Ukraine ist hingegen nur ein Teil der ethnisch russischen Minderheit vom Kreml erfolgreich instrumentalisiert worden. Sonst stehen auch die nationalen Minderheiten der Ukraine loyal zu ihrem Staat, auch die ungarischen Ukrainer, ungeachtet der außenpolitischen Spannungen, die es zwischen Budapest und Kiew gibt.
Der größte Unterschied besteht darin, dass die Ukraine gegen den Aggressorstaat kämpft und im Land ein fortgesetzter Verteidigungswille besteht, während die Tschechoslowakei angesichts des Münchner Diktats der Großmächte einknickte. Die Chiffre „München“ taugt also wenig, wenn man sie von der überfallenen Tschechoslowakei 1938 auf die Ukraine heute überträgt. Doch ist der Vergleich in Bezug auf die Strategie der Aggressorstaaten treffend.
Dabei wird eine Dimension meist übersehen: Hitlers Strategie zur Zerschlagung der Tschechoslowakei bediente sich nicht nur traditioneller mächtepolitischer Instrumente, sondern zielte auch auf die internationale Öffentlichkeit. Lange vor dem Münchner Abkommen arbeitete die nationalsozialistische Propaganda an dem Bild einer „künstlichen“, historisch illegitimen, dazu angeblich „bolschewistisch verseuchten“ Tschechoslowakei. Hitlers Hass auf Prag gipfelte in wütenden Reden, in denen er den Staatspräsidenten Edvard Beneš dämonisierte.
Markierung als Feind
Parallelen zwischen der nationalsozialistischen Propaganda und Putins Diffamierung der Ukraine drängen sich auf: Wie Hitler die Tschechoslowakei zur instabilen, „unmöglichen“ Konstruktion erklärte, so bezeichnet auch Putin die Ukraine als künstliche, historisch illegitime Entität. Wie Hitler Beneš als gefährlichen Intriganten zeichnete, so wird Selenskyj von der russischen Propaganda als „Drogensüchtiger“ und „Nazi“ dargestellt. Wie Hitler seine Minderheitenpolitik instrumentalisierte, so behauptet Putin, russischsprachige Ukrainer würden „genozidal“ unterdrückt.
Den Mechanismus hat Hannah Arendt im dritten Teil ihrer „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ beschrieben: „Praktisch gesprochen verfährt der totalitäre Herrscher wie ein Mann, der einen anderen so lange beschimpft, bis alle wissen, dass dieser der Feind ist, sodass er ihn anschließend mit dem Anschein von Selbstverteidigung töten kann.“ Das Zitat trifft den Kern der Ressentiment-Rhetorik Hitlers und Putins – bei allen Unterschieden in der Tonlage. Die Tschechoslowakei und die Ukraine werden jeweils als Feind markiert, der Angriff auf sie erscheint als bloße Revanche.
So dreist dieses Mittel ist, so zeitigt es doch Erfolge. Ein Teil der britischen Presse schlug den Ton an, den die deutsche Propaganda vorgegeben hatte, wie das neue Buch des polnischen Historikers Piotr Majewski über das Münchner Abkommen detailliert zeigt. So bezeichneten die „Daily Mail“ und andere Blätter die Tschechoslowakei als „entirely artificial country“. Britische Diplomaten nannten den tschechoslowakischen Präsidenten einen „blinden kleinen Fledermausmenschen“ und „Bolschewistenfreund“.
Putins Propaganda hat Einzug ins Dokument gehalten
Putins Propaganda wirkt auf vielfältige Weise auf den Westen und speziell die USA ein: durch russische Trolle, durch kremlhörige Journalisten wie Tucker Carlson, aber auch durch die direkte Verbindung mit der amerikanischen Politik. Das 28-Punkte-Programm beruht auf einer russischen Blaupause. So klingen mehrere Formulierungen des englischen Texts wie ungeschickte Übersetzungen aus dem Russischen.
Auch Putins Propaganda gegen die Ukraine hat einen Fußabdruck im Dokument hinterlassen. In Punkt 20 verlangt der Plan das Verbot aller „nationalsozialistischen Ideologien und Aktivitäten“. Im selben Punkt wird von der Ukraine die Einhaltung von EU-Regeln zur religiösen Toleranz und zum Schutz sprachlicher Minderheiten verlangt. Die Forderungen klingen unverfänglich, wiederholen aber doch die Propaganda, mit der Russland die Ukraine seit dem Beginn des Kriegs überzieht. Speziell der Vorwurf faschistischer Traditionen in der Ukraine ist ein Leitmotiv der Kreml-Propaganda. Der 28-Punkte-Plan suggeriert, dass es, wie die russische Politik unentwegt behauptet, nationalsozialistische Umtriebe gebe und dass eine Diskriminierung von nationalen und konfessionellen Minderheiten in der Ukraine in einem Maße stattfinde, dass sie internationaler Regulierung, also einer Einschränkung der ukrainischen Souveränität, bedürfe.
Der Gegenentwurf Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens ließ den Punkt über „nationalsozialistische Ideologien“ fallen, nahm aber die Klauseln zum Schutz der Minderheiten auf. Warum nicht, könnte man fragen, sieht doch die EU für ihre Mitglieder entsprechende Klauseln vor. Eingefügt in einen internationalen Vertrag mit Russland, würden diese Bestimmungen allerdings zu einem berechtigten Interesse Moskaus. Was es bedeutet, der russischen Politik die Tür in die inneren Verhältnisse der Ukraine zu öffnen, hat sich in der Vergangenheit, etwa nach dem Abschluss der Verträge von Minsk, schon erwiesen.