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Citizen Science: Wenn Viele Wissen schaffen

02.04.2024

Vögel zählen war der Anfang: Citizen-Science-Projekte haben immer größeren Zulauf. Auch an der LMU bringen sich Bürgerinnen und Bürger aktiv in die Forschung ein.

© picture alliance/dpa

„Raus aus dem Elfenbeinturm“ – diese Aufforderung wird oft ins Feld geführt, wenn es um Citizen Science geht. Bürgerbeteiligung wird von der Wissenschaftspolitik stark gefördert, in immer mehr Forschungsprojekte können sich interessierte Laien aktiv einbringen. An der LMU sind Beobachtungen zu Süßwasserquallen und Wildbienen, Beiträge zum alpenländischen Wortschatz, Monitoring zu Auswirkungen des Klimawandels oder die Verschlagwortung von Kunst nur einige Beispiele für Wissenschaft zum Mitmachen. Die Idee hinter Citizen Science ist nicht nur, neues Wissen zu generieren: Sie soll auch dazu beitragen, Wissenschaft in die Gesellschaft zu tragen und das Vertrauen zwischen Wissenschaft und Zivilgesellschaft zu stärken – gerade in Zeiten von Wissenschaftsskeptizismus und alternativen Fakten eine wichtige Aufgabe.

Dabei ist die Beteiligung von Amateuren an wissenschaftlichen Studien kein neues Phänomen: „Citizen Science hat eine viel längere Geschichte, als man gemeinhin annimmt“, sagt Henrike Rau, Professorin für Sozialgeographie mit Schwerpunkt Nachhaltigkeitsforschung am Department für Geographie. Im Rahmen des Citizen-Science-Verbundprojekts BAYSICS untersuchte die Geographin, wie Menschen auf Klimaschutzmaßnahmen blicken. Beispielsweise in der Biologie oder der Astronomie sind Menschen ohne formale Ausbildung seit Jahrhunderten an der Sammlung von Daten und Beobachtungen beteiligt – selbst Charles Darwin nahm streng genommen als Amateur an der Beagle-Expedition teil, da er eigentlich Theologe war. Als erste organisierte Zusammenarbeit von Bürgern und Wissenschaftlern gilt der von der Audubon Society in den USA veranstaltete Christmas Bird Count, eine Vogelzählung, die erstmals Weihnachten 1900 durchgeführt wurde und seither jährlich stattfindet.

Unterschiedliche Formate

„Citizen Science kommt ursprünglich sehr stark aus Bereichen wie Biologie und Ökologie, wo es darum ging, große Datensätze zusammenzutragen, für die es viele Köpfe braucht“, so Rau. Auch heute noch wird Citizen Science oft eingesetzt, um in einem Umfang Daten zu generieren, den Forschende alleine nicht bewältigen können. Auch durch die Digitalisierung gibt es immer neue Möglichkeiten für Bürgerbeteiligung in den verschiedensten Disziplinen. So muss man etwa dank moderner Bestimmungs-Apps bei vielen Fragestellungen kein eingefleischter Hobby-Ornithologe oder Pflanzenkundler mehr sein, um mitzumachen.

Eine international einheitliche Definition für Citizen Science gibt es bisher nicht. Das vom BMBF geförderte Projekt ‚BürGEr schaffen Wissen – WISSen schafft Bürger (GEWISS)’ zur Entwicklung von Citizen Science schreibt in seinem Grünbuch „Citizen Science Strategie 2020 für Deutschland“: „Während der angloamerikanische Ansatz von Citizen Science meist die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern bei der Datenerhebung in der Umweltforschung hervorhebt, ist das Verständnis in Deutschland breiter. Citizen Science umfasst die aktive Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern in verschiedenen Phasen des Forschungsprozesses in den Geistes-, Natur- und Sozialwissenschaften.“ Dementsprechend können sich hinter dem Begriff „Citizen Science“ ganz unterschiedliche Arten der Beteiligung verbergen: Vom einfachen Zur-Verfügung-Stellen von Ressourcen – etwa Rechenleistung von heimischen Computern – über das Sammeln von Daten bis hin zur komplett partizipativen Forschung, bei der die Bürgerforschenden auch in die Fragestellung, die Analyse und die Interpretation der Daten eingebunden sind.

Unterschiedliche Bevölkerungsgruppen erreichen

Im Zentrum des gerade beendeten Citizen-Science-Projekts BAYSICS, an dem Henrike Rau beteiligt war, stand ein interaktives Online-Portal, über das Bürgerinnen und Bürger unter anderem Beobachtungen zu den Auswirkungen des Klimawandels eintragen konnten. Für ihr eigenes Projekt hat sie sowohl „alle Kanäle innerhalb des Konsortiums bespielt“, als auch über andere Wege – etwa in Schulen oder mit Vorträgen – versucht, ein möglichst vielfältiges Publikum zu erreichen, und untersucht, wie Menschen Klimaschutzmaßnahmen einschätzen und die Verantwortlichkeiten dabei beurteilen. So hat sie verschiedene sogenannte Klimakulturen identifiziert, die ein breites Spektrum an Meinungen zum Klimawandel abdecken.

Eine Herausforderung für Citizen-Science-Projekte generell sieht sie allerdings darin, dass es schwierig ist, möglichst viele unterschiedliche Bevölkerungsgruppen zu erreichen. Oft würden recht homogene, ohnehin schon an Wissenschaft interessierte Gruppen an Citizen-Science-Projekten teilnehmen. Durch die Befragung von Personen, die sich auf der BAYSICS-Plattform mehrfach anmeldeten, weiß die Geographin, dass sich vor allem überdurchschnittlich gebildete und medienaffine Personen an der Datensammlung beteiligt haben. Prinzipiell gebe es aber ein breites Interesse, an solchen Projekten teilzunehmen, davon ist sie überzeugt, nur die Formate müssten passen. Ein wichtiger Kanal könnten etwa Schulen sein, um Projekte in die Bevölkerung zu tragen.

Was motiviert Bürgerforschende?

Citizen Lab - Forschung für Alle, Alle für Forschung!

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Die zentrale treibende Kraft, bei Citizen Science Projekten mitzumachen, ist bei den meisten Beteiligten eine hohe intrinsische Motivation, also Interesse am Thema und der Wunsch, einen Beitrag zur Wissenschaft zu leisten. Zusätzliche Motivation kann beispielsweise auch der Spaß am Spiel sein. Das LMU-Projekt ARTigo etwa ist als Spiel konzipiert, bei dem die Nutzerinnen und Nutzer durch die Verschlagwortung von Kunst Punkte sammeln. Zwischen 2010 und März 2024 haben rund 50.000 Spielerinnen und Spieler auf diese Weise schon mehr als 66.000 Bilder mit Tags versehen.

Ein Anreiz kann auch die Möglichkeit sein, eigene thematische Schwerpunkte zu setzen und Forschungsfragen zu definieren, die möglicherweise sogar das eigene Leben betreffen. Im Bereich Medizinische Versorgungsforschung leiten Professorin Eva Grill und Privatdozentin Daniela Koller vom Institut für Medizinische Informationsverarbeitung, Biometrie und Epidemiologie (IBE) das CitizenLab des Münchner Netzwerks Versorgungsforschung, durch das Patientengruppen in die Studienplanung mit einbezogen werden sollen, um deren Perspektive von Anfang an mit zu berücksichtigen. „Die Perspektive der Forschenden ist ja oft die Perspektive der Ärzte oder der Versorger“, sagt Grill. „Mit Bürgerbeteiligung wollen wir noch einen anderen Blick auf das System bekommen und beispielsweise mit Betroffenen gemeinsam identifizieren, welche Forschungsfragen noch nicht ausreichend abgedeckt sind.“

Bürgerbeteiligung eröffnet neue Perspektiven

Thematisch werden sich Grill und ihr Team mit verschiedenen Projekten unter dem Oberthema „Mobilität“ beschäftigen. Ein Schwerpunkt wird beispielsweise das Thema Schwindel sein. „Hier ist die Lebenszeitprävalenz sehr hoch und der Leidensdruck auch, aber die Versorgung ist nicht adäquat“, so Grill. „Da macht es Sinn, sich mit Patientinnen und Patienten zu unterhalten und durch deren Beteiligung eine Perspektive von außen auf das Versorgungssystem zu bekommen.“ Weitere Projekte, in denen die Forschenden mit Bürgerinnen und Bürgern zusammenarbeiten wollen, betreffen Long Covid und gesundes Altern in der Nachbarschaft.

Noch steht das CitizenLab allerdings ganz am Anfang. Derzeit bauen die Forschenden Kontakte auf, um Bürgerinnen und Bürger für die Teilnahme zu gewinnen. Eine Plattform dafür ist die Website des CitizenLab, aber auch direkte Kontakte beispielsweise zu Selbsthilfegruppen spielen eine wichtige Rolle. „Personen aufzutreiben, die zu den Themen beitragen können, ist mühsam“, betont Grill. Auch Veranstaltungen, bei denen beispielsweise Tests oder Übungen angeboten werden, können helfen, Teilnehmer zu erreichen, und werden nach Grills Erfahrungen gut angenommen. Allerdings sieht auch sie die Schwierigkeit, dass bei solchen Events nicht alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen erreicht werden.

Ziel von Bürgerforschung ist, dass die Menschen mehr Interesse an Wissenschaft entwickeln und sich Fähigkeiten aneignen, um wissenschaftliche Ergebnisse besser zu verstehen. Die Forschenden wiederum sollen durch diesen Sturm auf den „Elfenbeinturm“ motiviert werden, ihre Methoden und Ergebnisse allgemeinverständlich zu erklären. Dadurch soll Vertrauen zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit entstehen, innerhalb von Citizen-Science-Projekten und auch darüber hinaus – soweit jedenfalls die Idee.

Vertrauen aus Forscherperspektive

Die LMU-Sozialpsychologin Dr. Marlene Altenmüller widmet sich dem Thema Vertrauen im gerade gestarteten Verbundprojekt „Trust in Citizen Science (TiCS)“. Sie untersucht, welche Merkmale von Citizen Science aus der Perspektive von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Vertrauen schaffen oder auch Hürden für Vertrauen darstellen könnten. Dabei versteht sie unter Citizen Science eine komplett partizipative Co-Kreation von Wissen durch Forschende und Bürger. „Eine Grundlage des Vertrauens ist psychologisch gesehen die Abhängigkeit von der Expertise anderer. Unsere Theorie ist: Die Suggestion von ‚alle können Wissenschaft machen‘ stellt auch eine Form der Bedrohung für die gesellschaftliche Rolle von Wissenschaftlern dar und kann zur Ablehnung von partizipativen Formen der Wissenschaftsgeneration führen“, erklärt Altenmüller.

In ihrem Projekt will sie untersuchen, ob es dieses Gefühl der Bedrohung unter Forschenden gibt und falls ja, wie man damit positiv umgehen könnte. „Citizen Science wird sehr positiv kommuniziert und zurzeit stark gefördert. Ich glaube, das Besondere an unserem Projekt ist, dass wir versuchen, auch einen kritischen Blick auf Citizen Science und mögliche Hürden zu werfen, die Forschende selbst wahrnehmen.“ Eines der Merkmale, die nach Altenmüllers Ansicht das Vertrauen in Citizen Science beeinflussen könnten, ist der Grad der Bürgerbeteiligung. Citizen Science wird in der Praxis ja meist nicht als vollkommen partizipatives Projekt durchgeführt, sondern Bürgerforschende werden gezielt an einzelnen Schritten beteiligt. Der subjektiv wahrgenommene oder auch tatsächliche Grad der Beteiligung könnte ihrer Ansicht nach Einfluss auf die Stärke der Bedrohungsgefühle haben, insbesondere wenn die Beteiligung auch Entscheidungskompetenzen im Forschungsprozess betrifft.

„Möglicherweise wird das Potenzial von Citizen Science für die Vertrauensbildung im Moment zumindest noch überschätzt“, sagt Altenmüller. „Ich glaube nicht, dass Citizen Science per se immer Vertrauen auf allen Seiten steigert. Wichtig ist, wie Citizen Science gestaltet ist. Zum Beispiel, indem ‚Need for Expertise‘ immer noch eine Rolle spielt.“ Andere mögliche Stellschrauben seien auch Kommunikation und Rollenverteilung. Je klarer kommuniziert werde, wer für was zuständig sei, desto eher sei es auch möglich, Vertrauen zu fassen. Dies sei umgekehrt auch wichtig, um Frustrationen bei den Bürgerinnen und Bürgern zu vermeiden.

Generell ist die Idee von Citizen Science jedenfalls eine gute, darin sind sich die Wissenschaftlerinnen einig. Im Idealfall kann Citizen Science eine Vielzahl von Perspektiven in die Forschung integrieren und über die Laufzeit einzelner Projekte hinaus Strahlkraft in der Bevölkerung entwickeln. Damit dies gelingt, sind Vertrauen und klare Kommunikation unerlässlich. Dies ist keine Einbahnstraße, sondern erfordert eine partnerschaftliche Beziehung zwischen Bürgern und Forschenden – dann kann Citizen Science ihr volles Potenzial entfalten und eine stabile Brücke zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit schlagen.

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