Über den Kampf gegen die Lebensmittelverschwendung: Welche politischen Maßnahmen unterstützen Menschen im Alltag und was nehmen sie dafür in Kauf? – Interview mit Politikwissenschaftler Lukas Rudolph aus dem Magazin EINSICHTEN
Ein Drittel aller Lebensmittel landet im Müll. Das sind weltweit etwa 1,6 Milliarden Tonnen pro Jahr – mit gravierenden Folgen für die Umwelt sowie auf sozialer Ebene. Der Münchner Politikwissenschaftler Lukas Rudolph untersucht, was Menschen bereit sind, dagegen zu tun. Welche politischen Maßnahmen unterstützen sie und was nehmen sie dafür in Kauf?
Müll auf einem deutschen Wochenmarkt
In Ländern des globalen Nordens werden Lebensmittel am Ende der Produktionskette verschwendet.
Wir leben in einer Überflussgesellschaft. Ist Food Waste ein Phänomen unserer Zeit?
Rudolph: Ja und nein. Aktuellen Studien zufolge gehen 44 Prozent der Lebensmittel in den Ländern des globalen Südens verloren, und dort vor allem am Anfang der Produktionskette. Dies liegt zum Beispiel daran, dass Technologien fehlen, um Lebensmittel zu kühlen oder zu lagern. Das gab es in der menschlichen Geschichte schon immer. Anders verhält es sich in den Ländern des globalen Nordens, denn hier werden Lebensmittel am Ende der Kette verschwendet. Man kann eben auf Lebensmittel verzichten, die man dann wegschmeißt, um an anderen Tagen etwas Neues zu kaufen. Wir nehmen uns das Recht, eine solche Wahl zu treffen in unserer reichen Gesellschaft.
Verschwendung passiert auch auf dem Weg zum Verbraucher: Gemüse, das von der Wuchsform nicht der Norm entspricht, Produkte, die zu nah am Mindesthaltbarkeitsdatum sind . . .
Das ist auch ein Phänomen unserer Zeit, dass Lebensmittel aus Kosten- oder Marketinggründen verschwendet werden. Das wäre früher nicht passiert. Da müssen Sie nur mal an die Geschichten unserer Großeltern denken.
Welche Konsequenzen hat Food Waste global gesehen?
Die Verschwendung von Lebensmitteln zieht eine ganze Reihe von Konsequenzen nach sich: Rund acht Prozent der globalen Treibhausgase gehen auf das Konto der Lebensmittelverschwendung. Das ist ein relevanter Anteil am Klimaproblem. Aber auch Wasserverbrauch, Landverbrauch und der Verlust von Biodiversität hängen damit zusammen. Genauso wichtig sind soziale Auswirkungen. Food Waste erhöht die Nachfrage. Das hat Auswirkungen darauf, was sich Menschen in anderen Ländern leisten können.
Marketing für die Karotte mit zwei Spitzen
Heißt das, dass Regularien gegen Food Waste nicht nur Aufwand und Kosten verursachen, sondern letztlich sogar Lebensmittelpreise senken?
Ganz so einfach ist die Sache leider nicht. Gesamtwirtschaftlich wäre es sehr vorteilhaft, Lebensmittelverschwendung zu reduzieren. Vor allem, weil die Umweltbelastung sinkt, die ja alle möglichen Folgeprobleme nach sich zieht. Die Herausforderung ist, die Anreize so zu setzen, dass die Akteure dahingehend reagieren. Preise scheinen das nicht zu können. Unternehmen und Haushalte tragen die Umweltkosten und sozialen Kosten nicht direkt. Sie profitieren also auch nicht unbedingt von weniger Food Waste. Unternehmen, die Lebensmittel produzieren, müssen etwa in Technologien investieren, um Lebensmittel besser lagern zu können, oder in Marketing, um die Karotte mit zwei Spitzen zu verkaufen. Und das kann individuell die Ersparnis durch ein Vermeiden von Lebensmittelverschwendung übersteigen.
Müssten weniger Ausgaben für Lebensmittel denn nicht Privathaushalte überzeugen?
Im Privathaushalt könnten Ersparnisse zwar auch ein Anreiz sein. Da geht es in der Schweiz beispielsweise immerhin um jährlich 2.000 CHF pro Haushalt. Dafür muss man aber bereit sein, zum Beispiel das Essen vom Vortag nochmals aufzuwärmen oder auch mal Lebensmittel mit abgelaufenem Mindesthaltbarkeitsdatum zu essen. Es scheint, als ob die Kostenersparnis dafür nicht genügend Anreiz bietet.
Geht es also nur über staatliche Regulierung?
Die Staatengemeinschaft hat sich im Rahmen der Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen zum Ziel gesetzt, die Lebensmittelverschwendung bis 2030 zu halbieren. Das sind Ziele, die alle Industrienationen mit übernommen haben. Damit das erreicht wird, müssen alle gesellschaftlichen Schichten mitwirken. Auf Ebene der Privathaushalte, also bei den individuellen Verhaltensänderungen, kann man allerdings sehr viel schwerer mit Regulierungen ansetzen als auf Unternehmensebene. Frankreich etwa hat ein Gesetz verabschiedet, das es Supermärkten verbietet, genießbare Lebensmittel wegzuwerfen. Sie müssen gespendet werden. In Deutschland ist demgegenüber das Containern verboten. Das ließe sich leicht ändern, indem man die Sanktionierung aufhebt. Oder man könnte die Lebensmittel wie in Frankreich gleich spenden lassen.
Viele sind auch bereit, höhere Preise zu akzeptieren, um bis zu fünf Prozent.
Lukas Rudolph
Sie haben 2022 mit Ihren Schweizer Kollegen im Fachblatt Nature Food eine Studie veröffentlicht. Darin untersuchen Sie die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger in der Schweiz, für solche Regularien höhere Lebensmittelkosten in Kauf zu nehmen. Was war die wichtigste Erkenntnis?
Die wichtigste Take-Home-Message war: Die Bürgerinnen und Bürger in der Schweiz sind im Mittel durchaus bereit, stringente Regulierung zu unterstützen, wenn die Bedingungen gut gesetzt sind. Wenn Unternehmen zu ambitionierten Zielen verpflichtet werden, wenn eine breite Einbeziehung der Wirtschaft erfolgt, wenn es Transparenz und unabhängige Kontrollen gibt – dann sind die Bürgerinnen und Bürger auch bereit, höhere Preise zu akzeptieren, um bis zu fünf Prozent.
Erst 2018 ist die Fair Food Initiative in der Schweiz am Volksentscheid gescheitert. Ist die Akzeptanz in der Praxis doch nicht so hoch?
In der Fair Food Initiative ging es darum, die Wertschöpfungskette insgesamt nachhaltiger zu gestalten. Die Ausrichtung war also etwas anders als die Fragestellung, die wir untersucht haben. Das Bild, das die Medien über den Volksentscheid gezeichnet haben und das auch durch die Gegenkampagne verstärkt wurde, ließ den Eindruck entstehen, die Initiative sei an den zu erwartenden Preiserhöhungen gescheitert. Studien zeigen, dass das aber nicht unbedingt der Hauptablehnungsgrund war. Wichtig war etwa, dass nicht alle Parteien dahinterstanden. Wären sie sich da einig gewesen, wäre damit eine klare gesellschaftliche Norm kommuniziert worden.
Was als Abfall in einem Kompostwerk im Münsterland landet:
„Wir nehmen uns das Recht, eine solche Wahl zu treffen in unserer reichen Gesellschaft“, sagt Rudolph.
Unseren Ergebnissen zufolge sehr wohl. Wir haben in unserer Studie zur Lebensmittelverschwendung experimentell variiert, ob Befragte eine gesellschaftliche Norm kommuniziert bekommen oder nicht. Eine solche Norm existiert in Bezug auf Lebensmittelverschwendung: Es ist nationaler Konsens, dass die Sustainable Development Goals erreicht werden sollten. Wenn diese gesellschaftliche Norm klar kommuniziert wird, steigt die Akzeptanz, stringente Maßnahmen umzusetzen und mitzutragen, die dieser Norm entsprechen.
Welchen Einfluss hat der hohe Lebensstandard in der Schweiz auf das Ergebnis der Studie? Entscheiden Menschen mit geringerem Einkommen anders?
Klar, wir brauchen weitere Studien mit anderen Ländern, aber das bräuchten wir natürlich auch, wenn wir die Studie in Deutschland durchgeführt hätten. Man kann nicht einfach von einem Land auf ein anderes schließen. Allerdings: Die generelle Haltung zu Umweltregulierungen ist sehr vergleichbar zwischen der Schweiz und anderen entwickelten Ländern. Ich würde daher schon vermuten, dass die Ergebnisse in Deutschland oder Frankreich ähnlich wären. Bezüglich der Heterogenität von Effekten, also wie es bei Menschen mit geringerem Einkommen gegenüber Besserverdienenden aussieht, haben wir mit unserer Studie keine Aussage gemacht. Preiserhöhungen treffen ärmere Haushalte prozentual stärker. Daher ist davon auszugehen, dass es eine geringere Akzeptanz geben könnte. Für uns war die durchschnittliche Präferenz der Schweizer Bürgerinnen und Bürger relevant, denn diese trägt die politische Entscheidung.
Neben dem Einkommen spielt sicher auch die Bildung eine Rolle für die Meinungsbildung . . .
Das haben wir in Rahmen anderer Studien untersucht. Dabei ging es um die Problematik globaler Lieferketten: Umweltverschmutzung und soziale Probleme fallen überwiegend in Ländern des globalen Südens an, nicht bei uns. Das haben viele Menschen nicht auf dem Schirm, vor allem Menschen mit niedrigem Bildungsniveau nicht. Wir haben unsere Studienteilnehmer nach dem Zufallsprinzip in Gruppen eingeteilt, die wir über die Problematik informiert haben oder eben nicht. Dabei hat sich gezeigt: Den Teilnehmern Informationen an die Hand zu geben hat zwar einen kausalen Effekt darauf, was sie von der Problematik wissen und wie sie diese einordnen können. Aber das hat keinen relevanten Einfluss darauf, welche Maßnahmen man unterstützt. Einen starken Zusammenhang gibt es aber zwischen Grundwerten wie Sorge um die Umwelt und Unterstützung. Das muss aber nicht unbedingt mit Bildung zusammenhängen.
Was tun Sie selbst, um Food Waste zu vermeiden?
Ich bin stark von einem ökologischen Elternhaus geprägt. Vor dort habe ich viele positive Sachen für mein Leben mitgenommen – auch, dass bei uns zu Hause fast nichts weggeworfen wird. Das heißt natürlich vor allem: Papa ist der Resteschlucker und muss auch an Tag zwei noch dasselbe essen. Ob man das machen möchte oder nicht, hat natürlich mit persönlichen Präferenzen und Grenzen zu tun. Aber wir haben für uns entschieden, dass wir das so wollen – und das ist ja auch ökonomisch effizient.
Interview: Stefanie Reinberger
Dr. Lukas Rudolph ist Senior Research Fellow (Akademischer Rat) am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft der LMU und Affiliated Research Associate am Center for Comparative and International Studies der ETH Zürich.
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