Im Mikroskopischen lassen sich quantenmechanische Systeme mathematisch exakt beschreiben, im Makroskopischen noch nicht. Im EINSICHTEN-Porträt erzählt Christian Hainzl, wie er die verblüffenden Eigenschaften der Teilchenkollektive besser verstehen lernt.
Ein Gedankenexperiment: Stellen Sie sich eine Box vor, eine Art Schuhkarton. In diesem schwirren winzige Kügelchen umher, die miteinander wechselwirken. Sagen wir, sie stoßen sich gegenseitig ab, wie etwa Elektronen im Metall. Je näher sie beieinander sind, desto stärker ist die Abstoßung. Die Bewegung eines einzelnen Kügelchens wirkt sich auf die aller anderen aus: „Jedes Teilchen beeinflusst also das Ganze“, sagt Christian Hainzl vom Mathematischen Institut der LMU. Der Professor für Mathematische Physik versucht, das Verhalten von riesigen Kollektiven – sogenannten quantenmechanischen Vielteilchensystemen – mit mathematischen Formeln zu bändigen.
Experimentierfeld Whiteboard:
„Viele für die Beweisführung nötigen mathematischen Methoden existieren noch gar nicht. Sie müssen erst entwickelt werden“, sagt Christian Hainzl.
Tatsächlich ergeben sich viele interessante Effekte in der Quantenmechanik aus dem kollektiven Verhalten einer extrem großen Anzahl wechselwirkender Teilchen. Das können zum Beispiel Elektronen sein, die sich unter bestimmten Bedingungen als Kollektiv verhalten und so zum Supraleiter werden, in dem Strom ohne Widerstand fließt. Solche Hochtemperatursupraleiter hätten womöglich das Potenzial, die Energiewirtschaft und die Elektrotechnik zu revolutionieren. Oder es können Gasteilchen sein, die sich bei sehr tiefen Temperaturen nicht mehr unterscheiden und räumlich zuordnen lassen, ein sogenanntes Bose-Einstein-Kondensat. Die Atome oder Moleküle bilden eine Einheit; sie sind quasi überall gleichzeitig und bewegen sich im Gleichschritt.
„Die Eigenschaften solcher quantenmechanischen Vielteilchensysteme sind ausgehend vom Mikroskopischen kaum zu verstehen“, sagt Hainzl. Zwar gebe es mathematische Modelle, die quantenmechanische Effekte auf mikroskopischer Ebene exakt formulieren. Für dieses makroskopische Verhalten des Kollektivs würden sie jedoch keine brauchbaren Informationen liefern. Dennoch sollte sich – gemäß der Logik – aus allen Positionen, Zuständen und Wechselwirkungen der einzelnen Teilchen das Verhalten des Systems im Großen herleiten lassen.
Woran Hainzl nun schon viele Jahre arbeitet, wird seit 2023 auch durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) mit einem Sonderforschungsbereich (SFB) gefördert. Hainzl ist Sprecher des SFB, dessen erklärtes Ziel es sei, „die unterschiedlichen Facetten und Arten von Korrelationen und Verschränkungen in Vielteilchen-Quantensystemen“ aus verschiedenen mathematischen Perspektiven zu erforschen. Dadurch wollen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mathematische Methoden weiterentwickeln und letztlich zu einem Fortschritt im Bereich der Quantentechnologie beitragen.
Zustandsbeschreibungen von Physikern sind aus der Sicht der Mathematik meistens nur eine Art Vermutung.
Wie bei allen physikalischen Systemen wird zur Beschreibung der jeweiligen Vielteilchen-Quantensysteme eine Formel gesucht, die die zeitliche Energieentwicklung des Kollektivs beschreibt – die sogenannte Hamiltonfunktion. Für quantenmechanische Systeme lässt sich daraus die berühmte Schrödinger-Gleichung ableiten. Sie hat die Form einer partiellen Differenzialgleichung und beschreibt die Veränderung eines physikalischen, nicht relativistischen Zustands nach den Regeln der Quantenmechanik. Für Physiker ist die Schrödinger-Gleichung eine der wichtigsten Formeln überhaupt.
Grundlegender Bestandteil ist der Hamiltonoperator – eine Matrix, die bei geeigneter Vereinfachung die Energiewerte des Systems preisgibt. Der Operator liefert beispielsweise die Energieniveaus von Elektronen in Atomen oder Molekülen. „Sobald jedoch Korrelationen im Spiel sind, sind die Zustände jedes Hamiltonoperators eines Vielteilchensystems sehr schwierig zu bestimmen“, sagt Hainzl. Wenn die Teilchenzahl extrem groß ist, wird es sogar unmöglich. Allerdings gibt es mitunter einen Ausweg: Man muss all diejenigen Wechselwirkungen vernachlässigen, die das kollektive Verhalten am Ende nicht beeinflussen. Mit etwas Glück wird das unglaublich komplexe System dann doch so einfach, dass es sich mathematisch beschreiben lässt.
Und wie geht man dazu vor? Wie Physiker auch definiert Hainzl die Arten der Wechselwirkung der Teilchen und das Potenzial, also sozusagen die Wirkung eines Kraftfelds auf die Massen und Ladungen der Teilchen. Auch die anfangs erwähnte hypothetische Box nutzt er für seine Überlegungen: Um die reale Situation möglichst gut abzubilden, lässt er die Dichte der darin enthaltenen Teilchen gegen einen Grenzfall streben – in vielen Fällen ist das unendlich, etwa für Elektronen im Metall. Nun steigt zwar die Komplexität des Systems ins Unermessliche, aber manche Terme der Zustandsgleichung streben dann gegen Null und fallen weg. Mit etwas Geschick lässt sich das System auf diese Weise schließlich doch mathematisch beschreiben.
Der Schreibtisch eines Mathematikers:
„Ein Denkprozess kann sich viele Monate hinziehen", sagt Christian Hainzl. „In dieser Zeit landet viel zerknülltes Papier im Mülleimer.“
Auch Physiker lassen bestimmte Faktoren wie Wechselwirkungen, die das Gesamtbild nur marginal oder gar nicht beeinflussen, unter den Tisch fallen. In vielen Fällen können sie so die in der Realität gemachten Beobachtungen relativ genau erfassen und den Ausgang von Experimenten vorhersagen. Mathematiker wie Hainzl geben sich aber mit dieser Vorgehensweise nicht zufrieden: „Die Zustandsbeschreibungen der Physiker sind aus der Sicht der Mathematik meistens nur eine Art Vermutung“, sagt er. „Unsere Aufgabe ist es nun, zu beweisen, dass man gewisse Terme wirklich weglassen kann, um eine korrekte Beschreibung des Systems zu bekommen. Oder zu zeigen, für welche Fälle die getroffenen Vereinfachungen gelten.“
Um etwa die Korrelationsenergie von Elektronen im Metall zu bestimmen, haben Physiker den Wechselwirkungsterm schlichtweg so sehr vereinfacht, dass nur noch die Wechselwirkung von einzelnen, auf bestimmte Weise zusammengesetzten Paaren übrig blieb. Diese Paare betrachten sie als Bosonen, wodurch sich der Hamiltonoperator so stark vereinfacht, dass man ihm die Energiewerte entnehmen kann. „Wir Mathematiker beweisen nun, dass die Terme, die man wegwirft, wirklich bei hohen Teilchendichten gegen Null gehen.“ Auch die Idee, dass sich diese Paare beinahe wie Bosonen verhalten, gilt es zu zeigen. „Solche Dinge mathematisch einwandfrei zu beweisen, ist sehr schwer“, betont Hainzl.
Es mag sich wie ein Mathematiker-Klischee anhören, aber bei seiner täglichen Arbeit kritzelt Hainzl reihenweise mathematische Bedingungen, Wechselwirkungen, Summenformeln, Integrale und Randbedingungen auf Papier oder sein Whiteboard, streicht durch, korrigiert, beginnt von vorne. „Viele der für die Beweisführung nötigen mathematischen Methoden existieren noch gar nicht, sie müssen erst entwickelt werden“, sagt Hainzl.
Fernziel Quantencomputer:
Auch wenn dies sicher Teil der Motivation sei, kämen solche Visionen Mathematikern nur selten über die Lippen, sagt Hainzl. „Wir sind sehr realistisch und zurückhaltend, wenn es um die Ziele unserer Arbeit geht.“
Regelmäßig tauscht er seine Gedanken mit Kollegen aus, grübelt mit ihnen zusammen über einer Aneinanderreihung von Gleichungen auf der Tafel, die für den Laien völlig nichtssagend sind. Dieser Denkprozess kann sich über Monate oder gar Jahre hinziehen. „Viel zerknülltes Papier landet in dieser Zeit im Mülleimer“, erzählt Hainzl. Immer wieder glaubt er sich am Ziel, um am nächsten Tag erkennen zu müssen, dass er einen Fehler in der Beweisführung begangen hat und sich ein Term doch nicht wie angenommen vernachlässigen lässt. „Als Mathematiker braucht man eine hohe Frustrationsgrenze“, sagt er.
Und hat man schließlich einen sattelfesten Beweis erarbeitet, ist das meist nicht das Ende: „Häufig sind die zugehörigen Formeln sehr kompliziert und viele Seiten lang; erst nach und nach vereinfacht man dann“, erzählt er. Denn nur wenn die Beweisführung einigermaßen kompakt und eingängig sei, würden auch andere Fachleute sich die Zeit nehmen, sie nachzuvollziehen. Die jahrelange Denkarbeit solle schließlich nicht nur als Fachartikel enden, für den sich niemand interessiere, sagt Hainzl. Denn ein wichtiges Ziel der mühsamen Arbeit ist, dass die Ideen und Ansätze durch die mathematische Gemeinschaft weiterentwickelt werden.
Als Mathematiker braucht man eine hohe Frustrationsgrenze.
Christian Hainzl
Physik befruchtet Mathematik
Bereits in der Vergangenheit haben physikalische Probleme die Mathematik bereichert: So wurden beispielsweise wichtige, inzwischen klassische Ungleichungen der Analysis erstmals im Kontext der Quantenphysik entdeckt. Aus dem mathematischen Beweis dafür, dass Systeme aus Atomkernen und Elektronen nicht kollabieren, ergab sich etwa die Ungleichung für die Abschätzung der Summe aller Eigenwerte einer Matrix. Für die Mathematik war das eine große Sache.
Mathematische Ergebnisse über die nichtlineare Schrödinger-Gleichung hatten zudem einen großen Einfluss auf andere Bereiche der partiellen Differenzialgleichungen und auf die harmonische Analyse. Und die Mathematik und die Quantenmechanik befruchten sich seit Langem gegenseitig, indem sie Perspektiven und Methoden aus dem jeweils anderen Bereich übernehmen. Die Theorie der Zufallsmatrizen, deren Anwendungen von der Zahlentheorie bis zu den theoretischen Neurowissenschaften reichen, entstand ursprünglich aus der Modellierung der komplexen Struktur der Energieniveaus angeregter Atomkerne.
Ähnliches könnte auch bei der mathematischen Annäherung an kollektive Quantenphänomene passieren: „Indem wir die zugrunde liegenden Korrelationsstrukturen von Vielteilchensystemen versuchen zu beschreiben, wollen wir die bestehende Mathematik vorantreiben und neue Methoden entwickeln“, sagt Hainzl. Weil die Mathematik der Vielteilchen-Quantensysteme sehr vielseitig sei, entstehe ein fruchtbarer Austausch zwischen verschiedenen Fachbereichen der Mathematik.
Langfristig könnten die Beweise und die Zustandsgleichungen außerdem Physikern helfen, quantenmechanische Prozesse in Natur und Technik besser als bisher zu verstehen. „Wir hoffen, dass man unsere Ansätze in die Numerik überträgt und darauf aufbauend Computeralgorithmen entwickelt, die Forscher dann relativ einfach anwenden können.“ Das könnte zum Beispiel die Entwicklung von Quantencomputern oder Hochtemperatursupraleitern vorantreiben. Auch wenn dies sicher Teil der Motivation sei, würden solche und ähnliche Visionen Mathematikern nur selten über die Lippen kommen, sagt Hainzl. „Wir sind sehr realistisch und zurückhaltend, wenn es um die Ziele unserer Arbeit geht.“ Auch hier gilt also: Vermuten zählt nicht, erst muss ein Beweis her!
Text: Janosch Deeg
Prof. Dr. Christian Hainzl ist seit 2019 Inhaber des Lehrstuhls für Mathematische Physik am Mathematischen Institut der LMU. Hainzl, Jahrgang 1972, studierte Mathematik an der Technischen Universität Wien und Physik an der Universität Wien. Promoviert wurde er an der Universität Wien. Nach Postdoc-Stationen in Wien, an der LMU, an der Universität Paris Dauphine und in Kopenhagen war Hainzl Assistant Professor und Associate Professor an der University of Alabama in Birmingham, USA, bevor er in Tübingen auf die Professur für Mathematische Methoden der Naturwissenschaften berufen wurde.
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