News

Erben der Erinnerung

13.09.2021

Wie kann man von dem Grauen erzählen? Ein Gespräch über die Auseinandersetzung mit dem Holocaust und die Bedeutung der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen.

„Wir müssen den Holocaust ganz selbstverständlich als Teil der deutschen Geschichte akzeptieren“: Die Zeithistorikerin Kim Wünschmann, die Leiterin des NS-Dokumentationszentrums München, Mirjam Zadoff, und der Historiker Michael Brenner im Gespräch:

Rodeln über den Gräbern von Buchenwald, Junggesellenabschiede am Berliner Holocaust-Mahnmal – geraten die Toten des nationalsozialistischen Völkermordes in Vergessenheit, in den Nebel der Gleichgültigkeit? Oder was sagen solche Alltagsszenen über das Erinnern?

Brenner: In Vergessenheit? Nein, aber sie rücken natürlich im Lauf der Zeit in historische Ferne. Umso mehr bleibt es die Herausforderung, die NS-Zeit deutlicher in Erinnerung zu behalten als manch andere Phasen der deutschen Geschichte. Und wenn Sie mich auf das Rodeln und ähnliche Entgleisungen ansprechen, die gab es leider auch schon früher. Auch in den 1950er-Jahren ging man mit diesen Erinnerungsorten nicht immer so um, wie wir es wünschen würden.

Zadoff: Wir denken manchmal, Deutschland wäre gleich nach 1945 in eine Art Erinnerungskultur eingestiegen. Nein, es war ein schmerzhafter und langer Prozess, der vor allem von den Überlebenden getragen wurde und in der allgemeinen Bevölkerung erst einmal nicht viel bewirkte. Was wir jetzt ein Dreivierteljahrhundert später in Zeiten der Pandemie erleben, gibt einem das Gefühl, dass die Demokratie in einer Krise steckt. Denn der öffentliche Raum, in dem Demokratie stattfindet, kommt uns ja in Teilen abhanden – und wird instrumentalisiert, um nur ein Beispiel zu nennen, mit Selbstinszenierungen von Corona-Leugnern als Anne Frank oder Sophie Scholl.

Das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, Symbol der NS-Vernichtungsmaschinerie.

© Beata Zawrzel/NurPhoto via Getty Images

Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, mahnt auf andere, sehr eindringliche Weise: „Judenfeindliches Denken und Reden bringt wieder Stimmen, ist wieder salonfähig – von der Schule bis zur Corona-Demo und natürlich im Internet, dem Durchlauferhitzer für Hass und Hetze aller Art“, sagte sie am Holocaust-Gedenktag Ende Januar im Bundestag. Würden Sie diese düstere Bestandsaufnahme unterschreiben?

Wünschmann: Es ist alarmierend, wie sich in unserer Mediengesellschaft die Grenzen des Sagbaren verschieben können. Die enge Gedankenwelt der Echokammern verstärkt eine Art, über die Vergangenheit zu sprechen, die als Attacke auf unseren Erinnerungskonsens und unsere demokratisch-pluralistische Werteordnung zu verstehen ist.

Brenner: Der Antisemitismus war ja nicht verschwunden. Er war teilweise tabuisiert oder eben nicht salonfähig, wie Frau Knobloch sagt. Jetzt sehen wir den deutlichen Unterschied, dass er sogar bundestagsfähig geworden ist – mit einer Partei im Parlament, die damit auf Stimmenfang geht.

Zadoff: Bei dieser Art des Denkens geht es ganz gezielt darum, eine offene, diverse Kultur zu torpedieren und ein nationalistisches, revisionistisches Geschichtsbild zu schaffen. Das Anwachsen von Antisemitismus und Rassismus ist im Übrigen ein internationales Phänomen mit länderübergreifenden Koalitionen der Rechtsextremen.

Björn Höcke, einer der Chefideologen der AfD, fordert seit Jahren eine erinnerungspolitische Wende.

Brenner: Ich denke, das ist die Wiederkehr des alten Schlussstrich-Denkens in neuem Gewand – die Abkehr von einer deutschen Erinnerungspolitik, die bewusst gesagt hat: Diesem dunklen Kapitel der deutschen Geschichte können wir nicht ausweichen, es ist zentral auch für die Entstehung und das Wesen der Bundesrepublik.

Es ist nahezu 100 Jahre her, dass die Nationalsozialisten auf den Plan getreten sind. Weht ein Hauch von Weimar, wie oft behauptet, auch heute wieder?

Zadoff: Wir brauchen keine vorschnellen Vergleiche. Aber die Frage nach den Mechanismen etwa, durch die die Nationalsozialisten in den 1920er-Jahren salonfähig gemacht wurden, drängt sich auf. Was passiert, wenn eine Gesellschaft in die Krise rutscht, wenn der soziale Zusammenhalt zerbricht – da können wir aus den 20ern, so anders diese Zeit auch war, einiges lernen.

Wünschmann: Geschichte wiederholt sich nie genau gleich. Trotzdem lassen sich Vergleiche mit Weimar anstellen. Weimar ist immer schon die Kontrastfolie zur Bundesrepublik gewesen: Das Grundgesetz ist sozusagen eine Anti-Weimar-Verfassung; das politische System hat sich etabliert in bewusster Reaktion auf die Schwächen des politischen Systems in der Weimarer Republik, als strikt repräsentative Demokratie mit deutlich ausgewogeneren Machtbalancen.

Den Überlebenden ein Gesicht geben: Der Fotograf Martin Schoeller hat 75 Frauen und Männer, die die Gräuel des Holcaust mitangesehen, erduldet und überstanden haben, in Israel besucht und sie porträtiert. Ausstellung im Zollverein Essen, Januar 2020.

© Rolf Vennenbernd/picture alliance/dpa

Generationenfragen oder das Ende der Zeitzeugenschaft

Bald wird es keine Überlebenden der NS-Todesmaschinerie mehr geben, die uns direkt Auskunft geben können. Was bedeutet dieser Verlust für die Erinnerung und die Auseinandersetzung mit dem Holocaust?

Wünschmann: Ich glaube, wir befinden uns derzeit in einer Übergangsphase. Noch sind Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus der großen Gruppe derer, die den Holocaust als Kinder und Jugendliche überlebt haben, unter uns.

Brenner: Die Frage nach dem Verlust möchte ich ganz persönlich beantworten. Meine Mutter ist im vergangenen Jahr im Alter von 95 Jahren gestorben. Bis vor Kurzem hat sie noch vor allem in Schulen über ihre Erfahrungen berichtet. Normalerweise ist sie immer für den Holocaust-Gedenktag am 27. Januar angefragt worden und auch für den 13. Februar, den Tag des Luftangriffs auf Dresden 1945. Sie müssen wissen, meine Mutter hat in Dresden überlebt und paradoxerweise hat ihr die Bombennacht das Leben gerettet, weil sie untertauchen konnte. Für den 16. des Monats hatte sie einen Deportationsbefehl. Und ich dachte mir jetzt, als diese Tage wiederkamen, wie anders es diesmal war, schon allein, weil einige der Anfragen diesmal an mich gingen. Aber ich kann nicht die gleiche Erinnerung transportieren. Ich habe all das nicht erlebt. Ich kann nur das wiederholen, was ich so oft von ihr gehört habe. Wichtig bei Zeitzeugen-Gesprächen sind aber diese kleinen Momente der Begegnung, nicht die große Geschichte, nicht die große Erzählung. Wenn ich meine Mutter manchmal beobachtet habe, wenn sie vor Schulklassen vorgetragen hat, dann waren das bestimmte Handbewegungen, ein Lächeln, eine Anekdote oder auch mal ein Witz mittendrin, was ein befreiendes Element für die jungen Leute in der Schule sein konnte. Oder auch mal einen Augenblick der Trauer zuzulassen. Diese spontanen Momente, die können wir nicht wiedergeben, nicht als Angehörige der zweiten Generation und nicht als Historiker. Die finden wir auch nicht in den Quellen. Das ist tatsächlich verloren.

Haben die Erfahrungen Ihrer beiden Eltern, Ihr Vater war ja ebenfalls Holocaust-Überlebender, Sie auch als Forscher beeinflusst, waren sie vielleicht sogar etwas wie ein Auftrag, sich dem Thema zu widmen?

Brenner: Ich bin ja mit diesen Erzählungen aufgewachsen. Das war sicher mit ausschlaggebend für mich, Geschichte zu studieren. Für Kinder von Überlebenden allerdings war das keineswegs typisch. Unter den gleichaltrigen jüdischen Jugendlichen, die ich kannte, war ich der einzige.

Zadoff: Viele berichten, dass ein Zeitzeugen-Gespräch der Moment war, in dem sie etwas verstanden haben. Und ich glaube, es wird uns gerade noch einmal bewusst, wieviel die Stabilität der deutschen Demokratie auch mit der Rolle der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu tun hat und wieviel diese das gekostet haben mag. Ernst Grube, ein Münchner Überlebender, mit dem wir eng zusammenarbeiten, sagt manchmal, er weiß nicht, wie lange er das noch machen kann. Jedes Gespräch über seine Geschichte, über den Verlust seiner Familie falle ihm schwer und bedeute eine Re-Traumatisierung. Und jetzt erleben wir viel schneller, als wir es für möglich gehalten haben, dass die Zeitzeugen nicht mehr sichtbar sind. In der Pandemie gehören sie zur Hochrisikogruppe; an die 9.000 weltweit sind bereits an Covid-19 verstorben. Unsere Suche nach neuen Technologien, die das Berichten der Zeitzeugen konservieren sollen, zeigt im Grunde, wie hilflos wir sind.

Die Geschichte der Erinnerungskultur

Die Erinnerungskultur, wie wir sie heute kennen, ist in den 1970er-Jahren als eine Art Graswurzelbewegung aufgekommen, mit einer Vielzahl lokaler Geschichtsvereine, die die Täter- und Opferorte in ihrer Umgebung erforschten.

Zadoff: Ja; abgesehen davon gab es einzelne Figuren, vor allem jüdische Historiker, selbst Überlebende, die auch für Deutschland eine große Rolle spielten, Raul Hilberg etwa, dessen Schriften allerdings erst nach langem Hin und Her 1982 auch auf Deutsch erschienen. Oder Saul Friedländer, der sich in den 1980ern eine Kontroverse mit Martin Broszat vom Institut für Zeitgeschichte in München lieferte über den Wert der Zeitzeugenschaft. Für Broszat waren solche Erinnerungen geschichtsvergröbernde Mythen, zu emotional. Friedländer dagegen forderte Multiperspektivität ein, etwas, das heute selbstverständlich ist.

Brenner: Letztlich waren sie beide Zeitzeugen. Aber warum soll Friedländers Sicht emotionaler oder weniger relevant sein, weil er als Kind versteckt der Vernichtung entgangen ist, und die Perspektive eines deutschen Historikers, der in der NSDAP und der Wehrmacht war, demgegenüber weniger subjektiv gefärbt? Wir alle haben unsere Vergangenheit, auch als Historikerinnen und Historiker können wir das nicht abschütteln.

Entstanden seit den späten Siebzigern – ist die Erinnerungskultur, wie manche behaupten, ein Generationenprojekt der heute 55- bis 75-Jährigen?

Zadoff: Es gibt viele aus dieser Altersgruppe, die einiges bewegt haben, weil sie widerständig waren, weil sie lästig waren, die dafür gekämpft haben, dass Gedenkstätten eröffnet, Dokumentationszentren gebaut wurden.

Brenner: Der große Einschnitt war tatsächlich die Ausstrahlung der US-amerikanischen TV-Serie Holocaust in Deutschland Anfang 1979. Ich habe das damals als Gymnasiast erlebt: Es war wirklich so, dass alle Welt plötzlich angefangen hat, über das Thema zu reden und Eltern und Großeltern zu fragen: Was habt ihr gemacht? Das war wie eine Welle, die durch die Bevölkerung ging. Auch ich bin über die Auseinandersetzung mit der lokalen Geschichte zu meinem Thema gekommen. Ein Lehrer hat mich angesprochen, bei einem Geschichtswettbewerb der Körber-Stiftung mitzumachen. Ich bin in Weiden in der Oberpfalz aufgewachsen und habe mich Anfang der 1980er-Jahre mit der Geschichte der jüdischen Gemeinde dort zu beschäftigen begonnen und dafür viele Emigrierte angeschrieben, in Israel, Neuseeland, Kanada oder der Dominikanischen Republik. Der Lehrer ist übrigens heute noch in Schulen aktiv, obwohl er längst pensioniert ist.

Das zeigt ja, wie wichtig es ist, dass es Menschen gibt, die die Erinnerung bewusst weitertragen. Wer könnte das in Zukunft sein?

Wünschmann: Wir alle drei sind beteiligt daran, diese Generation auszubilden, sie mit dem auszustatten, was wir gelernt haben LMU Lehramtsstudierende, die das Thema in Schulen vermitteln, oder Studierende, die womöglich später in der historisch-politischen Bildung arbeiten, in Gedenkstätten – das sind dann die Menschen, die sozusagen in der ersten Reihe der Erinnerungsarbeit stehen. Wir müssen ihnen den Raum bieten, neue Formen auszuprobieren, zum Beispiel solche, die auf Personalisierung abheben, auf die Lebensgeschichten der Verfolgten, auf Empathie und Emotion. Und damit sie dies in den richtigen Kontext stellen können, brauchen sie eine profunde Wissensbasis zum Holocaust, zur NS-Zeit, zu jüdischem Leben und jüdischer Kultur in Europa.

Zadoff: Die Universität ist sicher ein wichtiger Multiplikator. Aber in unserer Zusammenarbeit mit Schulen – mit Berufsschulen, Mittelschulen oder Gymnasien – zeigt sich noch einmal eine ganz andere Welt. Darin spiegelt sich auch wider, dass etwa 40 Prozent der Münchner Bevölkerung nicht in Deutschland geboren sind. Wir machen immer wieder die Erfahrung, wie wichtig es ist, wer spricht und wer die Expertinnen und Experten sind – dazu zählen im Idealfall auch Gruppen mit Migrationshintergrund.

Wie kann das gehen?

Zadoff: Die Schlüsselfrage ist doch, wie wir junge Leute erreichen und für uns gewinnen. Dafür brauchen wir Erfahrungen mit digitalen Formaten, auch wenn das sicher nicht der Generalschlüssel ist. Wir erarbeiten gerade die App Departure Neuaubing über ein ehemaliges Zwangsarbeiterlager im Westen von München, bei der wir mit Entwicklern von Computerspielen zusammenarbeiten. Es gibt beispielsweise dieses sehr erfolgreiche deutsche Computerspiel Through the darkest of times, ein Strategiespiel darüber, wie man im Widerstand gegen die Diktatur überlebt. Anders als bei den vielen katastrophalen Spielen über den Zweiten Weltkrieg lernt man da viel über gesellschaftliche Zusammenhänge in der NS-Zeit.

Muss also unser Blick, wie viele fordern, noch stärker gesellschaftsgeschichtlich ausgerichtet sein, darauf, wie die Tätergesellschaften funktionieren, wie eine Gesellschaft auf Mechanismen von Gewöhnung, Ausgrenzung und Kriminalisierung reagiert?

Zadoff: Wir hatten 2019 eine Ausstellung mit dem Titel Die Stadt ohne. Juden Ausländer Muslime Flüchtlinge. Da ging es um die Frage, ob bestimmte Mechanismen, die in unterschiedlichen historischen Situationen wirken, vergleichbar sind. Es gibt in der Genozid-Forschung ein Modell, das fünf Stufen beschreibt, wie es zur Verfolgung von Gruppen kommt. Es führt über eine Polarisierung, die Identifizierung von Sündenböcken, und den Verlust von Empathie zu vereinzelter Gewalt und schließlich systematischer Verfolgung. Ich glaube, dass sich damit sehr vieles beschreiben lässt, was über die üblichen Schwarz-Weiß-Konstruktionen von Täter und Opfer hinausführt. Dadurch werden die Grauzonen der Entsolidarisierung, des Empathieverlustes sichtbar. In dem berühmten Fernsehinterview mit Günter Gaus von 1964 beschreibt Hannah Arendt das sinngemäß so: 1933 war nicht ein Schock, weil die Nazis die Nazis waren. Wir wussten, wer die Nazis sind und was sie machen. 1933 war ein Schock, weil unsere Freunde nicht mehr unsere Freunde waren.

Wünschmann: In der internationalen Holocaust-Forschung richtet sich der Blick zunehmend auf Gesellschaften als Ganzes, nicht nur auf Täter und Opfer, sondern auch auf die große Gruppe der Zuschauer. Und dieser Forschungsansatz kann zu heftigen Kontroversen führen. In Polen etwa standen vor Kurzem Barbara Engelking und Jan Grabowski letzten Endes deswegen vor Gericht, weil sie in ihrer großangelegten Gesellschaftsgeschichte Danach ist nur Nacht beschrieben haben, wie Ausgrenzung und Verfolgung im Mikrokosmos polnischer Gemeinden funktionierten. Wir müssen in der Forschung genau solche Dynamiken exakt untersuchen, die kleinen Schritte und Entscheidungen, die Anzeichen dafür beispielsweise, wie sich im gewohnten Umfeld Diskriminierung ereignete.

Unliebsame Erinnerungsorte: das KZ Gusen-Mauthausen. Das NS-Dokumentationszentrum zeigte kürzlich einen Teil des Werkes von Heimrad Bäcker, der den Ort in zahllosen Fotos dokumentiert hat, in der Ausstellung "es kann sein, dass man uns nicht töten wird und uns erlauben wird, zu leben".

© mumok Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Schenkung von Michael Merighi

Zeitweilig war nach dem Ende des 2. Weltkriegs auf dem KZ-Gelände Gusen-Mauthausen eine Champignonzucht untergebracht.

© mumok Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Schenkung von Michael Merighi

Eisenreste im Fundament der Großen Halle im Konzentrationslager Mauthausen

© mumok Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Schenkung von Michael Merighi

Todesstiege im Konzentrationslager Mauthausen

© mumok Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Schenkung von Michael Merighi

Seziertisch im Konzentrationslager Mauthausen

© mumok Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Schenkung von Michael Merighi

Schienenteile Großansicht

© mumok Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Schenkung von Michael Merighi

Die Orte der Erinnerung

Pünktlich zur US-Wahl erschien Joe Bidens Memoir Versprich es mir auch in Deutschland. Darin erinnert sich der jetzige Präsident an einen Besuch mit seiner Enkelin in der KZ-Gedenkstätte Dachau und garniert seine Darstellung mit dem Vorwurf, „grausame Einzelheiten seien über die Jahre abgemildert worden“. In den Häftlingsbaracken beispielsweise hätten die Betten „sauber“ und die Gestelle „frisch lackiert“ ausgesehen. Welches Missverständnis von der Aufgabe solcher Erinnerungsorte wie Dachau offenbart sich in Bidens Vorwurf?

Brenner: Vielleicht spielt bei vielen Besuchern von Gedenkstätten eine gewisse Enttäuschung mit, dass es dort eben nicht so aussieht wie im Film. Die Gedenkstätten haben in den vergangenen gut 20 Jahren viel getan, um den Besuchern zu vermitteln, wie es damals tatsächlich war. Und das heißt eben nicht, Baracken originalgetreu nachzubauen.

Zadoff: Bis vor Kurzem waren in unserem Haus Fotos von Heimrad Bäcker zu sehen, der schon früh obsessiv rund 15.000 Aufnahmen von den ehemaligen KZ Mauthausen und Gusen in Oberösterreich gemacht hat. Damals waren große Teile der Areale noch von Pflanzen überwuchert. Das reflektiert, wie unlieb einem diese Erinnerungsorte waren. Es sind auch Bilder darunter, die heute kaum noch einzuordnen sind. Etwa vom Hinweis auf eine Champignonzucht am Tor von Gusen, daneben spielen Kinder.

Welche Rolle können diese Stätten in Zukunft spielen? Immerhin gibt es rund 300 offizielle Gedenkorte in Deutschland.

Wünschmann: Ich habe viel zum ehemaligen KZ Osthofen in der Nähe von Worms gearbeitet. Das Lager dort war im März 1933 in einer leerstehenden Papierfabrik mitten im Ort errichtet worden, wie überhaupt die Nationalsozialisten schon früh ein dichtes Netz von Orten des Terrors in ganz Deutschland gespannt hatten. Heute befindet sich in Osthofen eine Gedenkstätte. Und hier kann man tatsächlich eine zuweilen enttäuschte Erwartungshaltung der Besucher beobachten, die manchmal in der absurden Frage gipfelt, wo denn hier nun die Gaskammer gewesen sei. Doch wenn man dann davon erzählt, dass die Wachmänner und die Häftlinge sich teils persönlich kannten, weil sie zusammen zur Schule gegangen oder Nachbarn gewesen waren, davon erzählt, wie schnell ein soziales Gefüge zerbrechen und sich in Täter und Verfolgte teilen kann, dann passiert etwas bei den Zuhörerinnen und Zuhörern. Das ist das Potenzial der dezentralen Gedenkstättenlandschaft: Sie ermöglicht es, sich mit der Lokal-, der Mikrogeschichte der nationalsozialistischen Gewalt auseinanderzusetzen. Damit lässt sich vieles noch einmal ganz anders aufarbeiten als bei einer Exkursion nach Auschwitz-Birkenau.

Zadoff: Erinnerungsorte experimentieren im Moment mit vielen Zugängen, etwa mit Augmented Reality und Apps. In München soll das ehemalige Zwangsarbeiterlager der Reichsbahn in Neuaubing ein Erinnerungsort werden. Bislang werden die Baracken bis auf zwei von Künstlern und Handwerkern genutzt, ein Kindergarten und eine Kinder- und Jugendfarm sind dort untergebracht. Dieser verwunschene und vergessene Ort fernab des Zentrums ist ein Raum, in dem wir die Vergangenheit auf sensible Weise sichtbar machen wollen. Die Frage ist: Wie bindet man den entstehenden musealen Raum in den lokalen Kontext ein? Immerhin entsteht in unmittelbarer Nähe das größte Neubaugebiet Europas: Freiham – eine große Chance, Neumünchner für das Thema und den Ort zu interessieren.

Brenner: Insgesamt ist das Interesse an KZ-Gedenkstätten ungebrochen. Zumindest bis zum Beginn der Pandemie sind die Besucherzahlen in den vergangenen 10, 20 Jahren deutlich nach oben gegangen. Die Besucherzahl der KZ-Gedenkstätte Dachau ist die zweithöchste einer staatlichen bayerischen Einrichtung nach Neuschwanstein. Natürlich kommt ein Großteil der Besucher aus dem Ausland, und natürlich sind viele darunter, die jetzt nicht unbedingt hingehen, weil sie es sozusagen aus freien Stücken tun, sondern mit ihrer Schulklasse oder einer anderen Gruppe.

Zadoff: Der Philosoph Jean Améry, auch er ein Überlebender, hat in den 1960er-Jahren noch befürchtet, künftige Schülergenerationen würden nichts aus der NS-Geschichte lernen und „Goethe und Himmler“ zitieren. Heute schreibt die in Deutschland lebende amerikanische Philosophin Susan Neiman in ihrem Buch Von den Deutschen lernen mit Blick auf die USA davon, wie „Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können“. Da hat dann eben auch einiges ganz gut funktioniert. Aber eines hat Deutschland tatsächlich verpasst: etwas von der Sichtbarkeit und Präsenz jüdischen Lebens, wie es sie vor 1933 gab, zurückzuholen und für selbstverständlich zu nehmen.

Brenner: Wir dürfen nicht den Fehler begehen, erst bei 1933 anzufangen, wenn wir uns mit der jüdischen Geschichte in Deutschland beschäftigen. 2021 ist ein Jubiläumsjahr, es steht im Zeichen von 1.700 Jahren jüdischen Lebens in Deutschland. Es ist also eine sehr lange Geschichte, die zeigt, dass Juden keine Fremden sind hierzulande, sondern dazugehören seit der Zeit, in der es auch Christen gibt. Wir müssen zeigen, was zwischen 1933 und 1945 verlorengegangen ist, nicht nur wie es zerstört wurde, nicht nur den Akt der Vernichtung.

"Anschlussfähig an die Erfahrungswelt eines Teenagers von heute": Ari Folmann und David Polonsky haben "Das Tagebuch der Anne Frank" als Graphic Novel erzählt.

© Anne Frank Fonds - Basel via Getty Images

Wie erzählen von dem Grauen?

Wie darf man über den Holocaust erzählen? Das ist in Deutschland eine bis heute nicht abgeschlossene Debatte.

Wünschmann: Ja, es gab immer wieder heftige Diskussionen, ob und in welcher Form man das Geschehen fiktionalisieren oder literarisch aufarbeiten darf. Das gilt für Werke sehr, sehr unterschiedlicher Qualität, für Romane wie Filme gleichermaßen. Wir haben die Frage im letzten Wintersemester mit Studierenden in einem Seminar untersucht – am Beispiel von Graphic Novels. Der Klassiker des Genres ist MAUS von Art Spiegelman. Als das Buch in den 1980er-Jahren erschien, löste es einen Skandal aus. Wie kann man es wagen, die Geschichte eines Überlebenden mit den Stilmitteln des Comics zu erzählen, so hieß es, und dazu gleichzeitig auch noch einen Generationskonflikt öffentlich auszubreiten, den der Autor mit seinem Vater, dem Überlebenden, ausficht? Wenn man diesen grafischen Roman mit dem Abstand von gut 30 Jahren liest, lässt sich kaum noch nachvollziehen, was daran so unbedingt provozierte. Da hat sich einiges verändert. Geschichtscomics sind mittlerweile etabliert.

Bleiben wir doch bei Graphic Novels, um das zu skizzieren.

Zadoff: Ja, gerade in diesem Bereich gibt es gute Beispiele, die sehr differenziert Geschichte aufarbeiten, nicht nur die der Opfer, sondern auch von Tätern oder Zuschauern. Nora Krugs Heimat etwa ist eine spannende Auseinandersetzung mit der Rolle der eigenen Familie in der NS-Zeit. Und David Polonsky und Ari Folman schaffen es mit einer Kombination von Originaltext, fiktiven Dialogen und Bildern, Das Tagebuch der Anne Frank sozusagen anschlussfähig zu machen an die Erfahrungswelt eines Teenagers von heute.

Nicht nur über rein rationale Wissensvermittlung – wie lässt sich das Thema Holocaust dem Menschen noch nahebringen?

Zadoff: Im vergangenen Jahr haben wir eine Kunstausstellung im NS-Dokumentationszentrum gezeigt und einige der Werke mit Bedacht in unserer Dauerausstellung platziert. Darunter waren Arbeiten von postmigrantischen Künstlerinnen und Künstlern, die sich dadurch in den deutschen Erinnerungsdiskurs einschreiben. Dabei waren sowohl Künstler aus Deutschland als auch aus dem Ausland. Letzte beschäftigen sich mit Traumata in anderen Kontexten und Themen wie zum Beispiel strukturellem Rassismus und Gewalt in den USA. Es ging uns dabei um die Frage, wer über Erinnerung spricht und wie wir es in Zukunft damit halten wollen. Wir brauchen den lebendigen, durchaus widerständigen Diskurs, wir dürfen Erinnerung nicht zu sehr ritualisieren. Und wir dürfen uns nicht ausruhen auf unserer Erinnerungskultur.

Wie waren die Reaktionen darauf?

Zadoff: Wir hatten ein deutlich stärker gemischtes Publikum als sonst. Wir haben auch internationale Wahrnehmung erfahren. Das Londoner Kunstmagazin Frieze hat die Ausstellung als eine der zehn wichtigsten in Europa im Jahr 2020 bewertet. Durch die Schau ist ein produktiver Dialog zwischen Wissenschaft und Kunst entstanden. Das hat das Publikum auch so gesehen.

"Das Tagebuch der Anne Frank" - in der Fassung von Ari Folmann und David Polonsky eine Kombination von Originaltext, fiktiven Dialogen und Bildern.

© Anne Frank Fonds - Basel via Getty Images

Klicks durch die Geschichte: Digitale Formen der Erinnerung

Vor zehn Jahren machte die Medienkünstlerin Michaela Melian mit ihrem Projekt Memory Loops Furore: Auf einem Stadtplan Münchens im Netz waren Dutzende Orte eingekreist. Mit einem Klick ließ sich jeweils eine Tonspur abrufen, mal eine Geschichte der Verfolgung, über den Terror im Alltag, mal eine Täterbiografie, mal eine Akte. Waren das sozusagen die Anfänge der multimedialen Aufbereitung?

Zadoff: Man hat ja oft das Gefühl, dass gerade digitale Projekte sehr schnell altern. Aber die Memory Loops, die bislang nur digital sichtbar waren, werden in unserem Haus jetzt einen Platz bekommen. Sie sind für die Geschichte der Erinnerung in München wesentlich.

Wünschmann: Die Memory Loops haben tatsächlich so etwas wie eine digitale Topographie der Erinnerung für München geschaffen. Wir haben sie im vergangenen Semester in einer Lehrveranstaltung sozusagen als case study, als Fallbeispiel genutzt. In einem Online-Seminar haben Studierende der LMU und der Hebräischen Universität in Jerusalem gemeinsam an Projekten gearbeitet, in denen es um Public History ging, um die Präsentation von Geschichte im öffentlichen Raum. Dabei mussten sich die Studierenden jeweils auch in einer fremden Stadt und ihrer Erinnerungslandschaft orientieren, um eigene Public-History-Projekte zu entwickeln. Was und wie wird erinnert in München und Jerusalem? Welche Möglichkeiten bieten die digitalen Techniken?

Es gibt mittlerweile große Archive mit Aufnahmen von Zeitzeugeninterviews. Es gibt auch Digitalprojekte, die Zeitzeugen virtuell Auskunft geben lassen. Wie sind die Reaktionen darauf?

Wünschmann: In den USA vor allem wird mit Hologrammen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen experimentiert. An der LMU setzt ein Projekt 3D-Projektionen von Zeitzeugen ein, die auf Fragen nach der Vergangenheit antworten können. Die realen Zeitzeugen haben zuvor Hunderte von möglichen Antworten eingesprochen, ein Algorithmus sucht die jeweils passenden aus. Solche Formen sind noch im Versuchsstadium. Wir müssen das kritisch begleiten.

Zadoff: Die Reaktionen sind durchaus kontrovers. Sind solche technischen Lösungen dem Thema angemessen? Wie alles Technische und Digitale können die Projektionen zudem fehlerhaft sein und – so die Befürchtung der Kritiker – manipulierbar. Allerdings können solche Kontroversen auch sehr fruchtbar sein, das zeigt das prominente Beispiel von Schindlers Liste. Als der Film 1993 in die Kinos kam, gab es viel Kritik – und eine breite Diskussion, wie sie der Dokumentarfilmer Claude Lanzmann anstieß, die Debatte darüber, ob das Grauen überhaupt darstellbar sei.

Seitdem sind wieder bald 30 Jahre vergangen. Wenn Sie es sich wünschen dürften, wie sprechen wir in zehn Jahren über den Holocaust?

Wünschmann: Ich hoffe, wir sprechen weiter kritisch und aufgeklärt über unsere Geschichte und der Holocaust nimmt darin einen zentralen Platz ein.
Brenner: Vielleicht sind wir in zehn Jahren so weit, dass wir keine Debatten mehr um einen Schlussstrich führen müssen, sondern den Holocaust ganz selbstverständlich als Teil der deutschen Geschichte akzeptieren.
Zadoff: Dem stimme ich zu, und ich wünsche mir, dass sich aus der Erinnerung eine Verantwortung für unser gegenwärtiges Handeln ableitet.

Moderation: Hubert Filser und Martin Thurau

© Stephan Rumpf

Die Gesprächsteilnehmer

Prof. Dr. Michael Brenner ist Inhaber des Lehrstuhls für Jüdische Geschichte und Kultur an der LMU und hält den Seymour and Lillian Abensohn Chair in Israel Studies an der American University in Washington DC. Brenner, Jahrgang 1964, studierte Jüdische Studien und Geschichte an der Hochschule für Jüdische Studien und der Universität Heidelberg mit Studienaufenthalt an der Hebräischen Universität Jerusalem. Er promovierte an der Columbia University, New York, lehrte und forschte an der Indiana University in Bloomington, und der Brandeis University in Waltham, USA, bevor er 1997 an die LMU kam.

© Thomas Wieland

Dr. Kim Wünschmann ist seit 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der LMU und wissenschaftliche Koordinatorin der Zusammenarbeit der LMU mit dem Zentrum für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte (IfZ). Wünschmann studierte Judaistik, Politikwissenschaft und Psychologie an der Freien Universität Berlin. Promoviert wurde sie im Fach Geschichte am Birkbeck College der University of London, Großbritannien.

© Orla Connolly

Dr. Mirjam Zadoff ist seit Mai 2018 Direktorin des NS-Dokumentationszentrums in München. Zadoff, Jahrgang 1974, studierte Geschichte und Judaistik an der Universität Wien und wurde in Neuerer und Neuester Geschichte sowie Jüdischer Geschichte und Kultur an der LMU promoviert, wo sie sich auch habilitierte. Von 2014 bis 2019 war sie Professorin für Geschichte Inhaberin des Alvin H. Rosenfeld Lehrstuhls für Jüdische Studien an der Indiana University Bloomington, USA.

Noch bis zum 14. November 2021 ist im NS-Dokumentationszentrum die Ausstellung Ende der Zeitzeugenschaft? zu sehen.

Lesen Sie weitere Beiträge aus der aktuellen Ausgabe von „EINSICHTEN. Das Forschungsmagazin“ im Online-Bereich und stöbern im Heftarchiv.

Oder abonnieren Sie EINSICHTEN kostenlos und verpassen keine Ausgabe mehr.

Wonach suchen Sie?