„Gedichte können Leben verändern“
29.07.2024
Zeilen, die haften bleiben: Ein Interview mit Literaturwissenschaftler Frieder von Ammon über Allgegenwart und Zeitlosigkeit von Lyrik.
29.07.2024
Zeilen, die haften bleiben: Ein Interview mit Literaturwissenschaftler Frieder von Ammon über Allgegenwart und Zeitlosigkeit von Lyrik.
Sie haben kürzlich auf ein Gespräch mit der Zeit hin, das unter der kritischen Frage „Brauchen wir Gedichte?“ stand, sehr viele Zuschriften erhalten. Sind Gedichte weiter verbreitet und beliebter, als gemeinhin angenommen wird?
Frieder von Ammon: Das ist ganz bestimmt so. Es gibt sehr viele Menschen, die in unterschiedlichen Lebensphasen, teilweise auch ganz ohne literarische Ambitionen zu haben, Gedichte schreiben. Es ist für sie Alltagspraxis, eine Art Selbsttherapie.
Dennoch haben Gedichte Konnotationen des Elitären und Anachronistischen. Das ist für viele eine Hemmschwelle, sich überhaupt damit zu beschäftigen. Wenn ein 13-Jähriger heute zugeben würde, dass er Gedichte schreibt, würde ihm das in seiner Peergroup wahrscheinlich schaden, was ich bedauerlich finde.
Andererseits hört ein 13-Jähriger vielleicht Rapmusik – und damit auch eine Art von Lyrik?
Genau. Ich versuche, in meinem Unterricht ein Bewusstsein dafür zu vermitteln, dass vieles von dem, mit dem die Studierenden positiv und produktiv umgehen, Lyrik ist, obwohl ihnen das gar nicht bewusst ist. Das betrifft besonders Songtexte. Kaum jemand würde auf die Idee kommen, dass Songtexte von Taylor Swift, Metallica oder von wem auch immer als Gedichte lesbar sind. Aber es geht. Und sobald man das klargemacht hat, lassen sich Berührungsängste abbauen.
Hätten Sie ein Beispiel für einen Song, der sich gut als Gedicht lesen lässt?
Ja, ich nenne gerne etwas. Man kann vielleicht nicht sagen, dass diese Songtexte besonders schön im herkömmlichen Sinn wären. Aber sie sind sehr interessant und teilweise auch sehr aktuell: Ich meine die erste Schallplatte der Nina Hagen Band von 1978. Da sind ganz hervorragende Songs drauf mit tollen Texten, zum Beispiel „Unbeschreiblich weiblich“. Das ist ein rebellischer, provokanter Text zum Thema Abtreibung, ein Akt weiblicher Selbstermächtigung, der im Kontext der feministischen Diskurse dieser Zeit zu sehen ist. Das sind Zeilen, die haften bleiben, weil sie eine bestimmte Position und die damit verbundenen Emotionen so pointiert zusammenfassen.
Warum soll ich meine Pflicht als Frau erfüll'n?
Für wen?
Für die?
Für dich?
Für mich?
Ich hab′ keine Lust, meine Pflicht zu erfüll'n
Für dich nicht
Für mich nicht
Ich hab′ keine Pflicht
Auszug aus dem Text des Songs „Unbeschreiblich weiblich“ der Nina Hagen Band von 1978.
Erwarten Sie von einem Gedicht, dass die Zeilen haften bleiben?
Ich möchte vorsichtig sein beim Formulieren dessen, was ich von Gedichten erwarte, denn ich versuche immer, so offen wie möglich zu bleiben. Aber wenn Verse so prägnant sind, dass man sie nicht mehr vergisst, ist das auf jeden Fall ein Qualitätskriterium.
Denken Sie zum Beispiel an Goethes „Prometheus“. Wie das anfängt: Bedecke deinen Himmel, Zeus, / Mit Wolkendunst! Das ist ein wahnsinnig guter Einstieg, den man nie wieder vergisst. Oder Shakespeares 18. Sonett: Shall I compare thee to a summer’s day? Besser geht es nicht.
Bedecke deinen Himmel, Zeus,
Mit Wolkendunst!
Und übe, Knaben gleich,
Der Disteln köpft,
An Eichen dich und Bergeshöh'n!
Mußt mir meine Erde
Doch lassen steh'n,
Anfang des Gedichts „Prometheus“ von Johann Wolfang von Goethe, 1785 erstmals veröffentlicht.
Manchmal muss man ein bestimmtes Lebensalter erreichen, um Gedichte so wahrnehmen zu können, wie sie es verdient haben.Frieder von Ammon
Manchmal ist es allerdings auch so, dass Zeilen haften bleiben, obwohl man das gar nicht möchte. Etwa: Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn. Herbert Grönemeyers „Flugzeuge im Bauch“ war für mich so ein Beispiel. Das hat sich mir als Kind stark eingeprägt, gerade weil ich den Text nicht mochte. Ich fand das Bild zu brachial.
Erst später habe ich mich dann gefragt, ob es nicht gerade in seiner Brachialität ein adäquater Ausdruck für ein überwältigendes negatives Gefühl ist, das einen von innen zu zerreißen droht. Manchmal muss man ein bestimmtes Lebensalter erreichen, um Gedichte so wahrnehmen zu können, wie sie es verdient haben.
Fühl′ mich leer und verbraucht,
alles tut weh
Hab' Flugzeuge in meinem Bauch
Auszug aus dem Text des Songs „Flugzeuge im Bauch“ von Herbert Grönemeyer von 1985.
Ich habe das Gefühl, dass gerade in der Gegenwart, die ich für eine sehr produktive Zeit für Lyrik halte, besonders viel experimentiert wird.Frieder von Ammon
Sie sagten vorhin, der Lyrik hafte etwas Elitäres an. Öffnet sie sich nicht gerade mit aktuellen Formen wie der Slam-Poetry? Und verändert sich dadurch das Dichten selbst?
Ja, das ist so. In manchen Kreisen hat Lyrik dadurch eine neue Popularität gewonnen. Aus historischer Perspektive ist es freilich bemerkenswert, dass das, was eine ganz neue Entwicklung zu sein scheint, tatsächlich eine Aktualisierung älterer Traditionen ist: Der Vortrag von Lyrik vor Publikum mit oder ohne Musikbegleitung zum Beispiel ist eine vormoderne Tradition, die zwischendurch ganz vergessen schien, jetzt aber wieder relevant geworden ist. Es ist natürlich so, dass sich das Gedichte-Schreiben in permanenter Veränderung befindet. Ich habe aber das Gefühl, dass gerade in der Gegenwart, die ich für eine sehr produktive Zeit für Lyrik halte, besonders viel experimentiert wird.
Woran liegt das?
Es gibt gewisse Rahmenbedingungen, die sich in dieser Hinsicht positiv auswirken: Verlegerinnen und Verleger, die bereit sind, auch Lyrik zu verlegen, die nicht dem Mainstream entspricht, Literaturhäuser – in München vor allem das Lyrik Kabinett –, die den Lyrikerinnen und Lyrikern eine Bühne geben und ihnen angemessene Honorare bezahlen. Die Lyrikszene selbst ist auch größer und besser vernetzt als früher. Und es gibt auch im Publikum ein größeres Interesse.
Insgesamt gibt es heute eine größere Sichtbarkeit für Lyrik. Das kann ich schon allein im Rückblick auf mein Studium in den 1990er-Jahren sagen. Damals hat Lyrik zum Beispiel an den Universitäten eine eher untergeordnete Rolle gespielt. Das hat sich inzwischen geändert.
Um diese Entwicklungen richtig einordnen zu können, benötigt man aber historischen Abstand. Als Zeitgenossen sind wir in mancher Hinsicht blind.
Gedichte können wahnsinnig viel. Sie können Leben verändern, Erkenntnis ermöglichen, Gemeinschaft stiften, geheime Botschaften übermitteln, Machthaber herausfordern, die Köpfe von Gelehrten zum Rauchen bringen, fröhlich gesungen werden.Frieder von Ammon
Woher kommt das neue Interesse? Was kann ein Gedicht?
Gedichte können wahnsinnig viel. Sie können Leben verändern, Erkenntnis ermöglichen, Gemeinschaft stiften, geheime Botschaften übermitteln, Machthaber herausfordern, die Köpfe von Gelehrten zum Rauchen bringen, fröhlich gesungen werden. Es gibt eine Polyfunktionalität von Gedichten, die in ganz vielen verschiedenen, auch alltagsnahen Zusammenhängen eine große Rolle spielen können. Das könnte man über Romane, die auch sehr viel können, nicht sagen – ohne dass ich die Gattungen gegeneinander ausspielen möchte.
Zentral ist sicher, dass Lyrik ein Medium ist, in dem sich besonders gut über Emotionen sprechen lässt. Wenn ich an Sappho denke, die erste große Lyrikerin der Antike: Sie beschreibt die körperlichen Auswirkungen erotischer Gefühle, wie wir sie heute noch kennen.
Denn sobald ich auf dich blicke, nur kurz,
bringe ich unmöglich noch einen Ton hervor,
sondern die Zunge ist gebrochen, ein leichtes
Feuer augenblicklich läuft unter der Haut,
mit den Augen sehe ich rein gar nichts, es sausen die Ohren,
hinab läuft der Schweiß, ein Zittern
packt mich am ganzen Leib, grüner als Gras
bin ich, und fast schon tot
erscheine ich mir selbst.
Auszug aus Fragment 31 von Sappho, übersetzt von Anton Bierl.
Gedichte können uns dabei helfen, Wahrnehmungsmuster zu durchbrechen.Frieder von Ammon
Könnten Sie ein weiteres Beispiel aus der Lyrikgeschichte nennen?
Ich habe mich gerade mit einem antiken Mondgedicht beschäftigt. Das Gedicht stellt sich den Mond als eine freundliche, schön gelockte Göttin mit weißen Armen vor – Selene –, von der insbesondere bei Vollmond ein leuchtender Glanz ausgeht. Es ist berührend zu lesen, weil wir heute sehr viel wissen über die Himmelskörper und deshalb oft ein gebrochenes Verhältnis zu ihnen haben, was zur Folge haben kann, dass wir ihren ganzen Zauber nicht mehr richtig wahrnehmen.
Wenn man aber ein solches Gedicht liest, in dem jemand seiner Überwältigung angesichts des Mondlichts so formvollendet Ausdruck verleiht, dann ist das im wahrsten Sinn des Wortes augenöffnend. Gedichte können uns dabei helfen, Wahrnehmungsmuster zu durchbrechen.
Es funkelt der lichtlose Äther,
gleichsam aus goldener Krone von hellen Strahlen durchflimmert,
wenn, von den Fluten des Ozeans frisch gewaschen, in prächt’ge
Kleider gehüllt, die weithin leuchtende Göttin Selene
ihr Gespann starknackiger glänzender Jungpferde lenkt und
vorwärts treibt zu eiligem Lauf die schönmähnigen Tiere
jeweils am Abend der Monatsmitte. Dann ist es Vollmond,
dann ist sie ausgewachsen und sendet die leuchtendsten Strahlen
uns vom Himmel herab als ein zu beachtendes Mahnmal.
Auszug aus dem Homerischen Hymnus „An Selene“, Autor unbekannt, übersetzt von Ludwig Bernays.
Es gibt hervorragende Gedichte von Frauen auch aus früheren Jahrhunderten, die oft viel zu wenig bekannt sind, weil sie zum Beispiel nicht in Anthologien aufgenommen worden sind.Frieder von Ammon
Falls dieses Interview bei Lesenden Interesse geweckt hat, die Urlaubstage zu nutzen, mal wieder selbst ein Gedicht zu lesen. Könnten Sie eine Empfehlung geben?
Ich nenne drei Autorinnen, die zu lesen sich auf jeden Fall lohnt: Sappho, Friederike Mayröcker und Uljana Wolf.
was brauchst du? einen Baum ein Haus zu
ermessen wie groß wie klein das Leben als Mensch
Beginn des Gedichts „was brauchst du“ der 2021 verstorbenen Friederike Mayröcker.
Warum nennen Sie nur Autorinnen?
Ich mache das ganz bewusst, aus kanonpolitischen Gründen. Weil der lyrische Kanon noch immer ein so dominant männlicher ist, dass man etwas dagegen tun muss. Diese Verzerrung der Literaturgeschichte sollte nicht fortgesetzt werden.
Es lässt sich also nicht damit begründen, dass es weniger Dichterinnen gegeben hätte?
Nur zum Teil. Lange Zeit ist der lyrische Kanon ausschließlich von Männern verwaltet worden, und das hat natürlich Spuren hinterlassen. Es gibt hervorragende Gedichte von Frauen auch aus früheren Jahrhunderten, die oft viel zu wenig bekannt sind, weil sie zum Beispiel nicht in Anthologien aufgenommen worden sind. Man muss sich teilweise immer noch auf die Suche nach ihnen machen. Diese Mühe haben sich bisher aber viel zu wenige gemacht. Zum Glück ist das Verhältnis von Lyrikerinnen und Lyrikern in der Gegenwart ausgeglichener. Aber es bleibt viel zu tun.
Frieder von Ammon ist seit 2022 Inhaber des Lehrstuhls für Neuere deutsche Literaturwissenschaft mit Schwerpunkt Literatur des 20. Jahrhunderts und der klassischen Moderne. Zuvor hatte er die Professur für Neuere deutsche Literatur an der Universität Leipzig inne. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Theorie und Geschichte der Lyrik.
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