„Förderzentrum Förderschwerpunkt geistige Entwicklung Unterhaching“: Das ist tatsächlich ein sperriger Name für eine Schule. Bis vor zehn Jahren war der weitläufige, lichte Flachbau am Ortsrand Unterhachings noch als Erwin-Lesch-Schule bekannt. Aber dann machten Forschungen der LMU Verstrickungen des Sonderpädagogen Lesch mit dem Nazi-Regime bekannt. Lesch, so die Forscher, beteiligte sich im „Dritten Reich“ an der Selektion angeblich bildungs- und schulunfähiger Kinder. Die Schule reagierte – und sucht seither nach einem neuen Namen. Ricarda Friderichs, Schulleiterin und Lehrbeauftragte am Lehrstuhl für Geistige Entwicklung der LMU, sprach ihren Kollegen Professor Peter Zentel auf das Thema an. „Mein Vorschlag war, ein Opfer der Euthanasie dafür auszuwählen“, erklärt Zentel. Friderichs war angetan. Ein Seminar wurde im Wintersemester aus der Taufe gehoben, zu dem Zentel Woche für Woche nicht nur seine Studierenden, sondern auch Schüler und Schülerinnen der Förderschule einlud. Das heikle Thema des Projekts: Euthanasie. Das Ziel: die Schüler über den Mord an Menschen, deren Leben als „nicht lebenswert“ galt, aufzuklären. Und darüber hinaus eine historische Person auszusuchen, deren Namen die Schule künftig tragen könnte. Eine anspruchsvolle Aufgabe. Denn Eugenik und Euthanasie – das geht auch heute noch unter die Haut. Daraus ein Unterrichtsthema für junge Menschen mit geistiger Behinderung zu machen, verlangt klare, verständliche Worte und sehr viel Fingerspitzengefühl.
Mord dem Vergessen entreißen
Während die Idee der Umbenennung rasch auf grundsätzliche Akzeptanz stieß, waren manche Lehrkräfte reserviert. Besorgt fragten sie sich: Wie würden ihre Schutzbefohlenen mit den Informationen aus dem Seminar umgehen? Würden sie verkraften, was sie dort hörten? Und hat es nicht etwas nachhaltig Bedrückendes, eine Schule nach einem Euthanasieopfer zu benennen? Zentel und Friderichs, der Professor und die Schulleiterin, beschlossen, es trotzdem zu versuchen. „Natürlich nehmen wir unsere Fürsorge ernst“, sagt Friderichs. „Aber dass das Thema in den Unterricht gehört, steht außer Frage.“ Mit didaktischem Geschick, so ihre Überzeugung, sei es möglich, das nötige Wissen zu vermitteln, ohne die Schülerinnen und Schüler, die zwischen 16 und 18 Jahre alt sind, nachhaltig zu belasten.
Auch eine mögliche Namenspatronin war rasch gefunden: Theolinde Diem. Dank ihrer Nichte Lisa Wanninger, einer rührigen Münchnerin von über neunzig Jahren, ist die von den Nazis ermordete Theolinde Diem noch heute ein Begriff. Sie hat ein Gesicht, sie hat eine Geschichte. Denn Lisa Wanninger, engagiert auch in der Angehörigengruppe von Euthanasieopfern des NS-Dokumentationszentrums München, will den Mord an ihrer Tante dem Vergessen entreißen. Darum erklärte sie sich auf Einladung Zentels gern dazu bereit, eine Seminarstunde in der Förderschule Unterhaching zu besuchen und als Zeitzeugin zu erzählen, wer Theolinde, genannt Thea, war. Und welches Schicksal sie mit so vielen anderen Menschen teilte. Als Wanninger Mitte Januar vor ihrer Zuhörerschaft Fotos ihrer verstorbenen Tante zeigt, haben Studierende und Schüler schon viele gemeinsame Seminarstunden besucht. Gesprochen wurde über Menschen, die man in der Nazizeit an den Rand drängte und ermordete: Juden, Sinti und Roma, Obdachlose, politische Gegner, Kranke, Homosexuelle. Zentel hat erzählt, dass die Nazis in den Konzentrationslagern nicht nur Menschenleben auslöschen, sondern auch die Erinnerungen an sie tilgen wollten.
Ein Tafelbild hat er mit der Frage überschrieben: „Was können wir heute tun?“ Die Antwort? „Nett zu anderen sein.“ „Nicht wegschauen, wenn andere geärgert oder ausgegrenzt werden.“ Und: „Uns erinnern.“ Man könnte Stolpersteine in den Boden montieren, erklärte Zentel, Plätze und Straßen nach den Ermordeten benennen. Oder eben auch: Schulen. Für den Besuch Lisa Wanningers haben sich die Jugendlichen im Lauf des Seminars Fragen überlegt und eine Schülerin zur Vorleserin bestimmt. Ihren Ausdruck legt sie vor sich auf den Tisch. „Wann ist Thea geboren und wann ist sie gestorben?“, liest sie. Lisa Wanninger antwortet: 1908 sei ihre Tante geboren worden, im März. Theolinde Diem, genannt Thea. Ein junges Mädchen, hineingeboren in eine weltoffene Familie, in der Klavier, Violine und Zither gespielt und philosophiert wurde. Aber mit 16 Jahren begann Thea unter epileptischen Anfällen zu leiden. Als Neunzehnjährige verbrachte sie mehrere Wochen im Krankenhaus. Anschließend wurde sie in die Heil- und Pflegeanstalt Schönbrunn gebracht, noch heute eine große Behinderteneinrichtung in der Nähe von Dachau. Das war im Dezember 1927. „Sie war dort gut untergebracht“, erzählt Wanninger, „aber als junges Mädchen mag man nicht eingesperrt sein.“ 14 Jahre verbrachte ihre Tante dort. „Sie konnte arbeiten, das war ihre Lebensversicherung“, erzählt Wanninger, „wer nicht arbeiten konnte, wurde selektiert.“
Zentel ergänzt: „Das war der entscheidende Punkt: Man musste arbeitsfähig sein, sonst war man nutzlos.“ Wanninger zeigt ein Bild ihrer Tante Thea im gepunkteten Kleid. Und eines mit Hund im Garten der Heilanstalt. Sie erzählt davon, dass ihre Tante im Frühling 1941 in die Nervenheilanstalt Haar verlegt wurde. Und dass sie selbst sich immer noch frage, warum die Eltern dies zuließen. Schon kurz darauf transportierte man Thea nach Hartheim bei Linz. „Die eigentliche Tragödie“, erzählt Lisa Wanninger, „fand dann dort statt.“ Die Schüler und Schülerinnen wirken betroffen. Und sehr aufmerksam. „Wie war Thea so und was machte sie gerne?“, liest die Schülerin von ihrem Zettel ab. „Gab es keine Medikamente gegen Theas Krankheit?“ Und: „Warum konnte Thea nicht gerettet werden?“ Lisa Wanninger sagt: „Man hat in dieser Zeit jede Menschlichkeit verloren.“
Ihr Name darf nicht untergehen
Theolinde Diem starb Ende April 1941. Ihr Name steht auf einer Tafel im Garten der Schönbrunner Werkstätten, zusammen mit all den anderen Namen derer, die wegen ihrer Behinderungen von den Nazis ermordet wurden. Ob Theas Name bald auch am Schultor des Förderzentrums Förderschwerpunkt geistige Entwicklung Unterhaching stehen wird, ist noch unklar. Die Schulfamilie, der Landrat, die Regierung: alle müssen zustimmen.
Von Regierungsseite sind die Signale positiv. Die Regierungsschuldirektorin Brigitte Schefold, zuständige Referentin für Kinder mit geistiger Behinderung, zeigt sich beeindruckt von der Seminarstunde mit Lisa Wanninger. „Ich würde es begrüßen, wenn es zu der Umbenennung käme“, sagt sie. Für sie gehört es pädagogisch dazu, „auch mit der Schwere“ umzugehen. „Man kann das nicht negieren!“ Und Lisa Wanninger erklärt: „Ich hoffe nur, dass es nicht wieder passiert! Wir können meine Tante nicht mehr lebendig machen. Aber was mir wichtig ist: Dass ihr Name nicht untergeht.“ Monika Goetsch
Der Beitrag ist der MUM, dem Münchner UniMagazin, entnommen. Das aktuelle Heft ist ab sofort auch als E-Paper verfügbar. Und natürlich gibt es das Magazin auch kostenfrei im Abo.