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Im Datenuniversum

20.09.2021

Raum und Zeit in 320 Millionen Megabyte: Der Astrophysiker Klaus Dolag untersucht in Simulationen, wie sich der Kosmos entwickelt.

Kosmos aus dem Supercomputer | © Hirschmann et al./Magneticum Pathfinder

Für sein eigenes, kleines Universum steht Klaus Dolag auch mitten in der Nacht auf. Wenn es sein muss, sogar mehrmals. Er schaut dann nach dem Rechten. Er passt auf, dass nichts schiefgeht. Er sorgt dafür, dass das Kleine wächst und gedeiht.

Wobei, so klein ist Dolags Universum gar nicht: 12,5 Milliarden Lichtjahre misst es in jede der drei Raumrichtungen. Verglichen mit dem Durchmesser des gesamten von der Erde aus sichtbaren Universums, von Kosmologen auf 93 Milliarden Lichtjahre geschätzt, ist das gar nicht so viel weniger. Es gibt aber einen anderen, durchaus großen Unterschied: Dolags Universum ist nicht real, es ist eine Simulation, eine der komplexesten und detailliertesten in der Kosmologie. Bereits 2015 hat der Astrophysiker sie am Münchner Hochleistungsrechner SuperMUC erstellt – drei Wochen und viele schlaflose Nächte lang. Noch immer beschäftigt sie ihn. Schließlich gibt es in einem eigenen Universum, auch wenn es nur auf einer Vielzahl von Festplatten existiert, immer etwas zu entdecken. Und immer etwas zu verbessern.

Frappierende Ähnlichkeit

Der Millionen Lichtjahre lange, dünne Gasfaden zwischen zwei Galaxienhaufen aus der Simulation sieht aus wie auf den Bildern von Röntgenteleskopen.

© Klaus Dolag

Was Teleskope nicht sehen können

Dolags simuliertes Universum ist dennoch keine Spielerei. Es ist keine Farm auf dem Handy, die gepflegt wird, die gedeiht und Spaß machen soll. Mit ihren kosmologischen Simulationen wollen die Forscher vielmehr Phänomene entdecken, die im Universum noch nicht erkannt werden konnten. Und sie wollen Beobachtern helfen, verwirrende Entdeckungen besser zu verstehen. Seit Langem grübeln Forscher zum Beispiel darüber nach, dass nur etwa drei bis vier Prozent der sichtbaren Materie in Form leuchtender Sterne im Universum verteilt sind. Ein weiterer, etwas größerer Teil steckt als heißes Gas in Galaxienhaufen, das nur im Röntgenlicht gesehen werden kann. Von rund der Hälfte der Materie im lokalen Universum fehlt allerdings jede Spur. Theoretiker vermuten, dass sie in dünnen, verhältnismäßig kühlen Fäden aus Gas steckt, aus denen die Galaxien einst entstanden sind und die sie heute wie ein Spinnennetz verbindet. Mit einer errechneten Dichte von nur zehn Atomen pro Kubikmeter haben sich diese Gasstrukturen bislang aber allen Teleskopblicken entzogen.

Oder vielleicht auch nicht. Das deutsche Röntgenteleskop eROSITA konnte vergangenes Jahr erstmals eine Struktur ausmachen, die solchen Phänomenen ähnelt: einen 50 Millionen Lichtjahre langen Gasfaden zwischen zwei Galaxienhaufen. Ein Teil der fehlenden Materie? Dolag schaute in seiner Simulation nach und fand zwischen zwei Haufen fast dieselbe Konfiguration. Von einer „frappierenden Ähnlichkeit“ sprechen die beteiligten Astrophysiker. Es ist zwar kein Beweis, aber ein wichtiges Indiz. Und ein Zeichen, dass Dolag mit seinem Universum wohl doch nicht so falsch liegt. Im Gegenteil.

Ein simulierter Kosmos hat noch andere Vorteile: Die Physiker können an ihm gezielt herumschrauben, und sie können schauen, was sich dann verändert – zum Beispiel bei der Dunklen Materie. Als kalte Teilchen, die nicht miteinander kollidieren, geht der mysteriöse Stoff derzeit in die Berechnungen ein. Was aber, wenn Dolag ihm andere Eigenschaften verpasst, wie sie von manchen Theoretikern derzeit postuliert werden? Gerät das simulierte Universum dann aus dem Gleichgewicht? Oder entspricht es noch stärker der Realität?

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2:32 | 16.09.2021

Aber warum simulieren Astrophysiker überhaupt ein Universum, wenn es da draußen doch ein echtes, noch dazu größeres gibt? „Wenn man den Himmel beobachtet, sieht man nur eine Momentaufnahme“, sagt Klaus Dolag. „Wir aber wollen wissen, wie das Universum entstanden ist, wie es sich entwickelt und welche physikalischen Prozesse dabei wichtig sind.“

Das klingt einfacher, als es ist. Wer den Kosmos simulieren will, braucht – neben immenser Rechenleistung – vor allem zwei Dinge: die passenden Anfangsbedingungen, von denen die Rechnerei ausgehen soll, und die richtigen physikalischen Formeln, um das Universum und seine Entwicklung zu beschreiben.

Beides ist noch immer mit vielen Unsicherheiten behaftet: Niemand war beim Urknall vor 13,8 Milliarden Jahren dabei, dem Beginn von Raum und Zeit. Rasend schnell muss sich das Universum damals von einem Punkt zu einer gigantischen Gaswolke ausgedehnt haben – wie genau, dazu gibt es nur Theorien.

Am Anfang ist alles noch einfach

Zum Glück für Astrophysiker wie Klaus Dolag, den Leiter des Computational Center for Particle and Astrophysics (C2PAP) im Münchner Exzellenzcluster ORIGINS, existiert allerdings ein Babyfoto des Universums. Aufgenommen kurz nachdem sich der erste Nebel gelichtet hatte, zeigt es leichte Unregelmäßigkeiten in einer Struktur, die Physiker den kosmischen Mikrowellenhintergrund nennen. Offensichtlich war schon damals die Materie im Universum leicht unterschiedlich verteilt. Es gab Dichteschwankungen, aus denen sich später Sterne, Galaxien und Galaxienhaufen entwickeln sollten.

Genau diese Unregelmäßigkeiten gehen als Startbedingungen in die Simulation ein. Von hier an wird das Zusammenspiel physikalischer Prozesse so komplex, dass nur noch aufwendige Simulationen es im Detail beschreiben können. „Ganz wichtig ist dabei die Gravitation“, sagt Klaus Dolag. „Das ist die entscheidende Kraft, die unser Universum bestimmt.“ Dank Einsteins Relativitätstheorie sind die Gesetzmäßigkeiten der Gravitation wohlbekannt. Bilden sich aus einem Gas Wolken und später Sterne, spielen aber noch andere Effekte eine Rolle: Die Auswirkungen der Hydrodynamik müssen berücksichtigt werden, Magnetfelder und am besten auch hochenergetische Teilchen.

Gefüttert mit Erkenntnissen

Das Problem: Sämtliche Vorgänge bis hinunter auf die atomare Ebene zu berechnen, würde die Grenzen des Machbaren sprengen. Bei einer Kantenlänge der Simulation von 12,5 Milliarden Lichtjahren, unterteilt in 180 Milliarden kleine Elemente, ist es nicht einmal möglich, das Schicksal einzelner Sterne zu berücksichtigen. Stattdessen greifen die Physiker zurück auf sogenannte phänomenologische Modelle: auf Erkenntnis- und Erwartungswerte. Sie berücksichtigen zum Beispiel, wie oft Sterne im Durchschnitt explodieren, welche Energie sie dabei freisetzen, wie sie ihre Umgebung verändern und was das für die Geburt neuer Sterne sowie die Evolution des Universums bedeutet. Wie stark sich solche Effekte in den einzelnen Regionen des simulierten Universums auswirken, hängt stets von den berechneten Umgebungsbedingungen ab. „Je dichter das Gas in einem Sternentstehungsgebiet ist, desto mehr Sterne bilden sich zum Beispiel“, sagt Dolag. „Das ist ein universales Gesetz.“

Aber, war das immer so? Oder war der Effekt im frühen, noch dichteren Universum anders ausgeprägt? Dolag zuckt mit den Schultern. „Das ist unklar, und das ist eines der großen Defizite, die im Moment alle Simulationen haben.“ Erschwerend kommt hinzu, dass Physiker längst nicht alle Prozesse im Kosmos verstanden haben. So besteht nur knapp fünf Prozent der gesamten Masse und Energie des Universums aus sichtbarer Materie, die sich mit bekannten Gesetzen beschreiben lässt. Der Rest setzt sich aus Phänomenen zusammen, die Kosmologen „Dunkle Materie“ und „Dunkle Energie“ nennen – „dunkel“, weil sie sich nicht beobachten lassen und deshalb kaum etwas über sie bekannt ist. Für die Simulationen bedeutet das: Die Physiker können lediglich die aus der Beobachtung bekannten Auswirkungen dieser Phänomene einbauen. Mehr nicht.

Simulierter Kosmos

Der massereichste Galaxienhaufen, den der Magneticum Pathfinder berechnet hat, besteht aus hunderten Galaxien (weiß), dazwischen befindet sich heißes (hellblau) und kaltes Gas (braun).

© Hirschmann et al./Magneticum Pathfinder

Drei Wochen rechnete der Supercomputer nur an Dolags Simulation

All das ist allerdings extrem aufwendig. Vor sechs Jahren, als sich Dolag nachts mehrmals den Wecker stellte, um frühmorgens beim ersten Kaffee nicht davon überrascht zu werden, dass die Berechnung zwischenzeitlich ausgestiegen war, blockierte die Simulation drei Wochen lang den gesamten Supercomputer im Münchner Leibniz-Rechenzentrum. Alle 86.016 Recheneinheiten widmeten sich damals dem Magneticum Pathfinder, so der Name der Simulation. „Da waren sehr viele andere Benutzer sehr unglücklich“, sagt Dolag. 25 Millionen Prozessorstunden kamen unterm Strich zusammen und 320 Millionen Megabyte an wissenschaftlichen Daten.

Das ist nichts, was sich alle paar Jahre aufs Neue umsetzen lässt – nicht, wenn man hinterher noch Freunde unter den Kolleginnen und Kollegen haben will. Zudem hält in solch kurzen Zeitabständen die benötigte Rechenleistung nicht Schritt mit den stets steigenden Anforderungen an Auflösung und Genauigkeit. Soll zum Beispiel jedes Element einer Simulation mit einer Million anderen Komponenten wechselwirken und nicht wie zuvor mit 100.000 Nachbarn, steigt der Aufwand für die Kommunikation um den Faktor hundert. „Hat dieser Teil vorher ein Prozent der Rechenzeit ausgemacht, lastet er plötzlich den gesamten Rechner aus“, sagt Dolag. Der Astrophysiker geht daher davon aus, dass bis zur nächsten großen, verbesserten Simulation mindestens fünf Jahre vergehen werden. Außerdem, das haben erste Testberechnungen gezeigt, braucht es dafür die nächste Generation von Supercomputern. Vielleicht sogar die übernächste.

Derweil arbeitet Dolag an den Details solch künftiger Simulationen. Im vergangenen Jahr erhielt der Physiker dafür eine Förderung des Europäischen Forschungsrats. Mithilfe dieses Advanced Grants, der mit bis zu 2,5 Millionen Euro dotiert ist, wollen Dolag und sein Team berechnen, wie sich das dünne geladene Gas in den Galaxienhaufen verhält. Und dieses Mal sollen in der Simulation tatsächlich Prozesse, die auf atomarer Ebene ablaufen, besser berücksichtigt werden. Dolag will die mikroskopischen Prozesse verstehen, die Abläufe auf kleinsten Skalen. Später sollen diese Erkenntnisse in die großen Simulationen mit ihren immensen Abmessungen einfließen. Sie sollen Aufschluss geben, welche Rolle die Leitfähigkeit, die Zähigkeit sowie die Turbulenzen von Gasen spielen und wie all das in künftigen Berechnungen berücksichtigt werden kann – wann immer die Supercomputer (und die Kolleginnen und Kollegen) dazu bereit sein mögen.

Denn eines ist klar: Für Dolag soll es auch in Zukunft bei Simulationen bleiben. Mit eigenen Augen in den Nachthimmel zu schauen, reizt den Astrophysiker nicht, auch wenn er an der Universitätssternwarte der LMU arbeitet. „Es ist doch viel schöner“, sagt Dolag und lächelt feinsinnig, „ein ganz eigenes Universum zu haben und nicht nur einen Teil eines anderen Universums beobachten zu müssen.“

Text: Alexander Stirn

Klaus Dolag am Leibniz-Rechenzentrum in Garching. | © C. Olesinski/LMU

Dr. Klaus Dolag ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung für Computational Astrophysics an der Universitätssternwarte der LMU und leitet das Computational Center for Particle and Astrophysics im Münchner Exzellenzcluster ORIGINS. Dolag, Jahrgang 1970, studierte Physik an der Technischen Universität München und wurde mit einer Arbeit am Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching an der LMU promoviert. Er habilitierte sich an der LMU. Im Jahr 2020 zeichnete ihn der Europäische Forschungsrat mit einem seiner hochdotierten Advanced Grants aus.

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