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Leben im Takt

30.08.2021

Der Rhythmus des Stoffwechsel: Die Biologin Maria Robles analysiert, wie die innere Uhr Tag und Nacht Proteinstatus und -aktivität in den Zellen steuert.

Prof. Dr Maria Robles, Chronobiologie, LMU München

„Wir wissen längst, dass ein veränderter Tagesrhythmus auf Dauer die Gesundheit beeinträchtigt“, betont Maria Robles. | © LMU / Jan Greune

Es begann in einem alten Wehrmachtsbunker in Andechs und sollte zu einem bahnbrechenden Experiment werden: Über viele Jahre hinweg bezogen rund 400 Freiwillige ein kleines Apartment – zunächst in besagtem Bunker, später in einem eigens eingerichteten Schlaflabor – und begaben sich dort für mehrere Wochen in totale Isolation. Sie waren völlig alleine. Wochenlang hatten sie keinen Kontakt zu anderen Menschen, sahen kein Tageslicht, hörten keinerlei Geräusche aus der Außenwelt – nichts was einen Hinweis auf die Tageszeit geben könnte. Trotzdem lautete die Aufgabe der Probanden, einen möglichst geregelten Tagesablauf zu leben: mit drei Mahlzeiten und Schlafphasen, die gefühlt der Normalität entsprachen. Das gelang ihnen erstaunlich gut – auch wenn sich bei den meisten Probanden mit der Zeit eine gewisse Verspätung einschlich und sie jeden Tag ein bisschen später aus den Federn kamen.

Damit war schon seit den 1980er-Jahren klar: Wir besitzen eine innere Uhr. Chronobiologen sprechen von ihr als einer zirkadianen Uhr, abgeleitet vom lateinischen „circa“ (ungefähr) und „dies“ (Tag). Der biologische Rhythmus dauert bei den meisten Menschen etwas länger als eine Erdumdrehung, nämlich um die 25 Stunden. Seltener ist der innere Tag kürzer als 24 Stunden. Umweltfaktoren stellen die innere Uhr, allen voran das Licht. So passt sich der Körper immer wieder dem 24-Stunden-Rhythmus an. Doch der eigentliche Taktgeber steckt im Inneren eines jeden Organismus – und das vermutlich schon seit Urzeiten. Wissenschaftler gehen davon aus, dass die zirkadiane Uhr bereits früh in der Evolution entstanden sein muss. Denn sie existiert selbst bei einfachsten Lebewesen. So steigen bestimmte marine Dinoflagellaten, urtümlich anmutende Einzeller, schon eine Stunde vor Sonnenaufgang an die Wasseroberfläche, um pünktlich mit der Photosynthese zu beginnen. Noch vor Sonnenuntergang sinken die Einzeller wieder in die Tiefe.

Zirkadiane Rhythmen sind keine zufällige Laune der Natur – und wir tun gut daran, uns an bestimmte Zeiten der Ruhe, der Aktivität, der Nahrungsaufnahme und so weiter zu halten. Davon ist Maria Robles, Professorin für Chronobiologie an der LMU, überzeugt. Sie wundert sich, wenn sie beispielsweise mitbekommt, dass Kollegen versuchen, möglichst wenig zu schlafen – aus Überzeugung, dadurch produktiver zu sein. „Schlaf hat seit der Industrialisierung den Ruf, Zeitverschwendung und ein Zeichen von Faulheit zu sein – völlig zu Unrecht,“ sagt sie.

Elektrisches Licht, Nachtschichten, lange Fernsehabende, nächtliches Surfen im Internet – der Homo sapiens gibt sich alle Mühe, seine innere Uhr aus dem Takt zu bringen. Und dafür zahlt er einen hohen Preis. „Es gibt unzählige Studien, die belegen, dass ein Leben entgegen der inneren Uhr der Gesundheit massiv schaden kann“, betont Robles. So erhöht ein dauerhaft gestörter biologischer Rhythmus – etwa durch Schichtarbeit – das Risiko unter anderem für Übergewicht, Diabetes, Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Depressionen.

Maria Robles zählt zu den weltweit führenden Forschenden im Feld der zirkadianen Proteomik. Sie ist den Rhythmen in Zellen, Geweben und Organen mithilfe eines Massenspektrometers auf der Spur.

© Jan Greune

Doch warum ist es nicht egal, wann wir schlafen, essen, arbeiten? Auf diese Frage haben Wissenschaftler kaum Antworten. „Im Feld wurde viel epidemiologisch und auf der Verhaltensebene untersucht“, sagt Robles. Die Forscher haben bislang hauptsächlich das Gesamtbild im Blick. Doch nicht nur der Organismus als Ganzes verfügt über eine innere Uhr. In jeder einzelnen Zelle tickt ein kleines Uhrwerk, das ihr einen Rhythmus vorgibt, welche Funktionen etwa gebraucht werden. Und das wiederum spiegelt sich darin wider, welche Proteine zu bestimmten Zeiten vorhanden und aktiv sind.

Robles zählt zu den weltweit führenden Forschenden im Feld der zirkadianen Proteomik. Sie ist den zirkadianen Rhythmen in Zellen, Geweben und Organen mithilfe eines Massenspektrometers auf der Spur. So untersucht sie, wie sich die Gesamtheit der Proteine in einer Zelle oder einem Gewebe im Rhythmus der inneren Taktgeber verändert: Welche Eiweißmoleküle sind zu einem bestimmten Zeitpunkt vorhanden und in welcher Menge? Wo in der Zelle befinden sie sich? Welche chemischen Modifikationen, die über die Aktivität von Eiweißmolekülen bestimmen, tragen sie?

Kleine chemische Anhängsel regulieren die Aktivität

Robles hat herausgefunden: Ein wichtiger Schalter, den die innere Uhr nutzt, sind sogenannte Phosphorylierungen von Proteinen, einem zentralen Mechanismus, der ihre Aktivität reguliert. Dabei versehen Enzyme die Eiweißmoleküle mit Phosphatmolekülen, kleinen chemischen Anhängseln als Markierungen. Dieser Prozess ist umkehrbar. „Wir haben beobachtet, dass in Leberzellen von Mäusen ungefähr 25 Prozent aller Proteine mit der Tageszeit ihre Phosphorylierung und damit ihre Aktivität verändern“, sagt die LMU-Forscherin. Rund 2.000 solcher Verschiebungen im Phosphorylierungsstatus zwischen Tag und Nacht hat das Team um Robles in der Mäuseleber ausgemacht. „Sie können sich das vielleicht so vorstellen: Am Morgen stellen Sie den Computer an, um mit der Arbeit zu beginnen. Und wenn Sie dann Feierabend machen, schalten Sie ihn wieder aus.“

Deutlich wird: Die Leber, unser zentrales Stoffwechselorgan, arbeitet tagsüber anders als in der Nacht. Denn die veränderte Phosphorylierung wirkt sich nicht nur auf die betroffenen Eiweißmoleküle selbst aus, sondern auch auf die Signalwege, an denen sie in der Zelle beteiligt sind. Das könnte zur Konsequenz haben, dass auch unsere Nahrung vom Körper anders verarbeitet wird, je nachdem, wann wir sie aufnehmen. Und dass Medikamente, zu bestimmten Zeiten eingenommen, besser wirken – oder eben nicht.

Wenn der Schlafdruck steigt

Auch in anderen Organen und Körperregionen verändern sich Proteine und ihre Phosphorylierung im Verlauf des Tages. Im Gehirn zum Beispiel – insbesondere beim Übergang vom Wach- in den Schlafzustand und zurück zum Wachsein. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen von der Universität Zürich hat Robles wiederum bei Mäusen die Menge und die Zusammensetzung von Proteinen in den Synapsen untersucht. Dabei handelt es sich um die Verbindungen zwischen zwei Nervenzellen, die dafür Sorge tragen, dass Signale weitergeleitet und schließlich verarbeitet werden können. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler machten vor allem zu zwei Zeiten große Umbrüche aus: am Abend, wenn der sogenannte Schlafdruck steigt, also eine Müdigkeit aufkommt. Und im Morgengrauen verändert sich die Proteinzusammensetzung erneut, also dann, wenn es an der Zeit ist, wach und aktiv zu werden.

Auffällig war außerdem, dass am Morgen vor allem Proteine entstanden waren, die der Funktion der Synapsen zugutekommen, also eine gute Reizverarbeitung während des Tages gewährleisten. Abends hingegen traten vor allem Eiweißmoleküle auf den Plan, die das Gehirn bei der Erholung unterstützen.

Robles Vision ist, dass ihre Arbeit eins Tages Einzug in die medizinischen Routinen hält. „Es ist für mich offensichtlich, dass Medikamente anders wirken, je nachdem wann sie eingenommen werden“, sagt sie.

© Jan Greune

Schlafmangel bringt das ganze System durcheinander

Aber nicht nur das. Mit ihrem Münchner Team nahm Robles die Phosphorylierung im Gehirn noch einmal unter die Lupe. Und auch hier zeigte sich ein klarer Wechsel zwischen Tag und Nacht. Ähnlich wie bei der Leber veränderten 25 Prozent, also rund 2.000 Proteine, ihren Phosphorylierungsstatus und damit ihre Aktivität – zur Schlafenszeit und erneut in der Aufwachphase.

Doch was, wenn man die Mäuse nicht schlafen lässt? „Schlafmangel bringt das ganze System durcheinander“, resümiert Robles. Das betrifft sowohl die Menge und Zusammensetzung der Proteine, als auch ihre Phosphorylierung. Interessanterweise wurden die meisten Gene nach wie vor abgelesen und auch die mRNA, also die Bauanleitung für Eiweißmoleküle, entstand. Doch dann war Ende: Die Synthese der Proteine war offensichtlich blockiert. Außerdem veränderte sich das Phosphorylierungsmuster der vorhandenen Eiweißmoleküle nicht in gewohnter Form. Das könnte erhebliche Auswirkungen auf das Gehirn und seine Funktion haben. Denn das erholt sich – und mit ihm der gesamte Körper – im Schlaf nicht nur. Während wir ruhen, bildet sich auch unser Gedächtnis aus und Gelerntes verfestigt sich.

„Wir wissen längst, dass ein veränderter Tagesrhythmus auf Dauer die Gesundheit beeinträchtigt“, betont Robles. Um herauszufinden, wie das passiert, gelte es Vergleiche zu ziehen zwischen einem „normalen“ Verhalten und einem, das entgegen der inneren Uhr läuft. „Das kann neben dem Schlaf zum Beispiel auch das Essverhalten betreffen,“ sagt Robles. Wenn wir rund um die Uhr essen, stopfen wir sehr wahrscheinlich auch mehr Kalorien in uns hinein. „Aber vielleicht macht es eben auch einen Unterschied, zu welcher Uhrzeit wir Nahrung aufnehmen – und wie der Körper sie dann verarbeiten kann.“

Robles Vision ist, dass ihre Arbeit eins Tages Einzug in die medizinischen Routinen hält. „Es ist für mich offensichtlich, dass Medikamente anders wirken, je nachdem wann sie eingenommen werden“, sagt sie. Darauf deuten ihre eigenen Forschungsergebnisse zur Leber überzeugend hin. „Aber wahrscheinlich sind auch Untersuchungen oder auch Operationen nur zu bestimmten Zeiten sinnvoll.“ Denn wenn die innere Uhr die Körperfunktionen im zirkadianen Rhythmus steuert, könnte dies auch diagnostische Ergebnisse beeinflussen – oder wie gut sich der Körper nach einem Eingriff erholt. Und vielleicht ist es chronobiologisch gesehen gar nicht sinnvoll, Patienten in aller Frühe zu wecken, um die Körpertemperatur zu messen und das tägliche Programm zu starten.

„Es wird sicher nicht leicht sein, diese Denkweise auf klinische Routinen zu übertragen“, vermutet Robles. Das würde bedeuten, Abläufe komplett umzustrukturieren – und sie wahrscheinlich auch zu verkomplizieren. Denn die innere Uhr tickt bei jedem Patienten ein wenig anders. Doch bis dahin kann jeder Einzelne etwas für sich tun: Er kann für regelmäßige und ausreichende Schlafenszeiten sorgen. Und aktive Phasen sowie Mahlzeiten weitestgehend auf den Tag legen. „Leben Sie nicht entgegen Ihrer inneren Uhr“, fasst Robles zusammen. „Dann ist schon viel gewonnen.“

Text: Stefanie Reinberger

Prof. Dr. Maria Robles ist Professorin für Systems Chronobiology am Institut für Medizinische Psychologie der LMU. Robles, Jahrgang 1974, studierte Biologie an der Universidad de León, Spanien, und wurde an der Universidad Autonoma de Madrid, Spanien, promoviert. Sie war Postdoc an der Harvard Medical School, Boston, USA, anschließend Marie Curie Research Fellow und Projektleiterin am Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried, bevor sie 2017 an die LMU berufen wurde.

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