Stipendien für die Zukunft Europas
17.05.2022
Anthropologin Alena Zelenskaia ist in das „Europaeum Scholars Programme” aufgenommen worden.
17.05.2022
Anthropologin Alena Zelenskaia ist in das „Europaeum Scholars Programme” aufgenommen worden.
Europa, das bedeutet für Alena Zelenskaia das Gegenteil von Nationalismus. „Die europäische Identität ist antimilitaristisch, demokratisch und vor allem sozial”, so die 33-Jährige. „Mit Fokus auf dem Menschen, von seiner Geburt bis zum Tod.” In ihrer Promotion widmet sich die Anthropologin einer besonderen Situation im Leben mancher Menschen: dem Umzug ins Ausland wegen der Liebe.
Am Graduiertenkolleg des Sonderforschungsbereichs „Vigilanzkulturen” am Historischen Seminar der LMU erforscht sie die Heiratsmigration russischer Ehe- oder Lebenspartner nach Deutschland. „Unter anderem geht es um die kulturellen Werteordnungen und Praktiken europäischer Grenzbehörden”, erklärt die gebürtige Russin, die auch schon in Kirgisistan und den USA gelebt hat. „Wie verstehen sie Intimität? Wie hat sich ihr Begriff von ‚Familie’ verändert? Und was soll geprüft werden, wenn die Paare nicht verheiratet sind?”
Insbesondere fokussiert Zelenskaia auf neue Migrationsregelungen, die die Einreise unverheirateter Lebenspartner erleichtern. „Hat der verminderte Druck vom Staat eine Auswirkung auf die Paare? Bedeuten weniger Papiere auch mehr Vertrauen – und damit weniger Vigilanz, also Wachsamkeit?” Die Konstellation der Themen Drittstaaten, Familienmigration, Diskriminierung und Grenzen findet die Wissenschaftlerin, die selbst mit einem Deutschen verheiratet ist und zwei kleine Kinder hat, „hochwichtig und spannend”.
Neben ihrer Promotion und einem Blog, für den sie in ihrer Freizeit Migrantinnen und Migranten interviewt, ist Zelenskaia seit März Stipendiatin des Hochschulverbunds Europaeum. 1992 ins Leben gerufen, gehören dem Netzwerk neben der LMU 17 weitere führende europäische Universitäten an, darunter Oxford, Bologna, Kopenhagen, Helsinki und Prag. Deren Studierende sollen interdisziplinär, interkulturell sowie international vernetzt werden und dabei wissenschaftliche Fähigkeiten erhalten, um gemeinsam die Zukunft Europas zu gestalten.
Die europäische Identität ist antimilitaristisch, demokratisch und vor allem sozial, mit Fokus auf dem Menschen, von seiner Geburt bis zum Tod.Alena Zelenskaia
„Europaeum vernetzt Forschung und Lehre im Bereich der European Studies”, erklärt Kiran Patel, Professor für Europäische Geschichte an der LMU, der die Münchner Aktivitäten des Netzwerks koordiniert. „Für die LMU ist Europaeum ein wichtiger Bestandteil der Internationalisierungsstrategie und ein Portal für fruchtbare Zusammenarbeit in Europa und zu europäischen Fragen.” Herzstück ist das „Europaeum Scholars Programme”. Alle zwei Jahre ausgeschrieben, bietet es Promovierenden wie Alena Zelenskaia parallel zur Dissertation einen zweijährigen „Policy and Leadership”-Kurs mit Fokus auf zeitgenössischer europäischer Politik. In den Bereichen „History and Culture”, „Policy-Making” und „Liberal Democracy and Citizen Engagement” untersuchen sie politische und gesellschaftliche Probleme und konzipieren Lösungsvorschläge – mit dem Ziel, Europas politische Entscheidungsträger fundiert beraten zu können.
Der Ansatz ist multidisziplinär, mit Fokus auf den Geisteswissenschaften: Linguistinnen kooperieren mit Juristen, Ökonomen mit Historikerinnen, Soziologen mit Philosophen. Zu den Forschungsinteressen der aktuell 36 Stipendiatinnen und Stipendiaten gehören etwa das Verhältnis von Kulturpolitik und sozialem Zusammenhalt, römische Religionspraktiken, populistische Diskurse, weibliche Charaktere in europäischen Naturromanen, Umweltbewusstsein und Cyber-Überwachungstechnologien.
Das Stipendium beinhaltet die Übernahme von Reise- und Unterkunftskosten an den Kursorten von bis zu 10.000 Euro. Alena Zelenskaia konnte zum ersten Kurs-Modul in Oxford nicht persönlich anreisen, da sie wegen des Krieges kein britisches Visum erhielt, per Zoom aber doch teilnehmen. Das breit gefächerte Veranstaltungsprogramm – auch als Inspiration für eigene Projekte – reichte von der Pandemie über Kulturmanagement bis zu Brexit und Obdachlosigkeit. „Es ging um Auswege für Frauen aus gewalttätigen Beziehungen, ein Philosoph stellte uns vor ethische Fragen über Killer-Roboter”, so Zelenskaia. Virtuell lernte sie dabei schon viele Kolleginnen und Kollegen kennen, die „super-freundlich und easy-going” seien und sich gegenseitig unterstützten.
Derzeit arbeitet Zelenskaia, die auf einen Bachelor in Journalistik sowie zwei Master in „Internationale Beziehungen” und „Anthropologie” in St. Petersburg zurückblickt, an einem Konzept für ihr Europaeum-Projekt. „Noch steht der Titel nicht fest. Aber es wird sich bestimmt auf Russland oder die postsowjetischen Länder beziehen.” Als ausgebildete Journalistin mache sie sich Sorgen um den Journalismus in Russland. „Deshalb erwäge ich ein Projekt über Propaganda, Soziale Medien oder ‚public watchdogs’.”
Die Ergebnisse aller Projekte sollen am Ende des Stipendiums auf einer internationalen Konferenz präsentiert und relevanten politischen Entscheidungsträgern vorgelegt werden. Beides könnte Zelenskaia auch bei ihrem nächsten Karriereschritt helfen: Denn nach der Promotion kann sie sich vorstellen, tatsächlich in die praktische Politikberatung zu gehen. „Europaeum war genau das flexible, modulbasierte Ausbildungsprogramm, das ich gesucht hatte”, resümiert sie. „Dass ,Europa’ in einem weiteren Sinne verstanden und auch die Bewerbung russischer Studierender akzeptiert wird, hat für Menschen aus meiner Heimat heute größere Bedeutung denn je – und gibt etwas Hoffnung.”
Neben der LMU gehören Europaeum folgende Universitäten an: Universidad Pompeu Fabra, Barcelona, Università di Bologna, University of Copenhagen, die Freie Universität Berlin, das Graduate Institute of International & Development Studies, Genf, die Universität von Helsinki, die Uniwersytet Jagielloński in Krakau, die Universiteit Leiden in den Niederlanden, die Katholieke Universiteit Leuven in Belgien, die University of Oxford, die Universidade Católica Portuguesa, die University of Luxembourg, die Universidad Complutense de Madrid, die Université Paris I Panthéon-Sorbonne, die Univerzita Karlova, Prag, die University of St Andrews in Schottland und die estnische University of Tartu.
Neben dem Stipendienprogramm haben Promovierende die Möglichkeit zu „Joint Degrees” mehrerer Europaeum-Universitäten.
Zudem organisiert das Netzwerk Seminare, Konferenzen und Diskussionsrunden; an der LMU sind ein Workshop sowie eine Summer School geplant. Teilnehmende werden, wie Stipendiatinnen und Stipendiaten, Teil des Europaeum-Alumni-Netzwerks.
Bewerbung: Promovierende der LMU können sich über das GraduateCenter für Europaeum-Stipendien bewerben.
Infos zu den zahlreichen Netzwerken der LMU und ihren über 600 Kooperationen mit Partneruniversitäten auf der ganzen Welt gibt es auf der Übersichtsseite Internationales Netzwerk.