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Strategien gegen das Domino-Prinzip

12.12.2022

Stockt nur an einer Stelle der Nachschub, drohen die komplexen globalen Lieferketten zu reißen. Die Ökonomin Lisandra Flach untersucht, wie sie sich robuster gestalten lassen. Eine Analyse aus dem Forschungsmagazin EINSICHTEN

Als die Ever Given im März 2021 über lange Tage den Suezkanal blockierte, waren die Bilder, die davon um die Welt gingen, schon längst kein Menetekel, kein Vorbote nur kommenden Unheils mehr. Das riesenhafte Containerschiff stand, auf die Uferböschung gelaufen, quer in der schmalen Fahrrinne und sorgte für einen Stau von Hunderten von Frachtern, der sich erst über Wochen hin auflöste.

Dieses Ereignis machte besonders augenfällig, was sich bereits im Jahr zuvor mit den weltweiten Corona-Lockdowns abzeichnete. Die Weltwirtschaft ist eng verzahnt und bereits minimale Störungen legen im Extremfall ganze Produktionszweige lahm, wenn der Nachschub stockt. Bislang kannte man ein solches Knirschen im ökonomischen Getriebe eher in limitiertem Umfang, Engpässe bei Materialien und Vorprodukten waren zeitlich begrenzt aufgetreten. Doch Corona und in diesem Jahr der Ukraine-Krieg haben der breiten Öffentlichkeit vor Augen geführt, wie verwundbar die Wirtschaft ist. Und die Ereignisse haben einen Begriff in der Wahrnehmung ganz nach oben gespült, der bislang eher nur in Ökonomenkreisen gebräuchlich war: den der Lieferketten.

Das Containerschiff Ever Given blockiert den Suez Kanal

Nichts geht mehr:

Das Containerschiff Ever Given ist auf die Uferböschung gelaufen und versperrt über lange Tage die schmale Fahrrinne des Suez-Kanals.

© imago images/Xinhua

Grob vereinfacht kann man sich eine Lieferkette als eine Art Fließband vorstellen, auf dem alle benötigten Rohstoffe oder Vorprodukte aus den unterschiedlichsten Winkeln der Welt zu dem Hersteller gelangen, der daraus einen Kühlschrank, ein Auto oder einen Computer zusammenbaut. Fehlt auch nur ein Glied in dieser Kette und kann kein Ersatz beschafft werden, kommt die Fertigung zum Erliegen.

Wie gesagt: vereinfacht. Weil die Wertschöpfung vieler Industrien heute global erfolgt und die Verflechtungen über die Jahre dramatisch an Komplexität gewonnen haben, sind Lieferketten längst auch ein Thema in der ökonomischen Forschung: „Wir befassen uns seit vielen Jahren mit der Frage, wie Freihandelsabkommen die globalen Wertschöpfungsketten verändern, und versuchen, die Auswirkungen mithilfe von Modellen zu quantifizieren“, umreißt Lisandra Flach einen ihrer zentralen Arbeitsschwerpunkte.

Sie ist Professorin für Volkswirtschaftslehre an der LMU und leitet das Zentrum für Außenwirtschaft am Münchner ifo Institut. „Schon vor Corona kam es immer wieder zu gestörten Lieferketten, etwa nach Naturkatastrophen oder infolge von geopolitischen Ereignissen“, macht Flach deutlich. „Diesmal war neu, dass alle Länder weltweit von der Pandemie betroffen waren, was die Probleme verschärft hat.“

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2:19 | 12.12.2022

Was die Natur von uns verlangt

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Komplexität erhöht die Risiken

Heute ist in der globalisierten Wirtschaft häufig eine Vielzahl unterschiedlichster Hersteller auf der ganzen Welt an der Produktion eines einzigen Guts beteiligt. Bei der Fertigung eines Automobils müssen beispielsweise Hunderte unterschiedlicher Teile in einem komplexen Prozess zusammengefügt werden, der hohe logistische Ansprüche stellt. Die Kunst besteht darin, die einzelnen Komponenten aus der ganzen Welt nach teilweise wochenlanger Reise auf See, Schiene und Straße zum richtigen Zeitpunkt an das Montageband zu bringen und sie in einem knapp bemessenen Zeitfenster zu montieren.

Unter dem ständigen Kostendruck, den die Globalisierung auferlegt hat, haben viele Unternehmen ihre Produktionsprozesse verschlankt und dabei ihre Lagerhaltung auf ein Minimum reduziert. Den Nachschub an Vor- und Zwischenprodukten besorgen sie sich zeitnah (just in time) am Weltmarkt bei den jeweils günstigsten Anbietern, die wiederum durch hohe Stückzahlen ihre eigenen Kosten drücken können. „Die Lieferketten sind dadurch immer komplexer geworden. Um ein Endprodukt herzustellen, überschreiten Zwischenprodukte inzwischen manchmal mehrere Landesgrenzen, was die Störanfälligkeit erhöht“, sagt Flach.

Gleich mehrere Faktoren haben diese Entwicklung begünstigt: Zum einen haben es technologische Sprünge ermöglicht, sich nahtlos mit anderen Unternehmen überall auf der Welt zu vernetzen. Zum anderen wurde der globale Warenaustausch durch internationale Abkommen berechenbarer und günstiger, indem sie die Durchsetzung von Verträgen erleichterten und die Handelskosten durch niedrigere Zölle und nichttarifäre Hemmnisse senkten. Und schließlich haben Strukturreformen es den Unternehmen erleichtert, im Ausland zu investieren.

Dank dieser technologischen, institutionellen und politischen Fortschritte ließen sich die Produktionsprozesse immer weiter aufspalten, was den internationalen Handel mit Vor- und Zwischenprodukten enorm beflügelt hat. Davon profitierten besonders ab Ende der 1980er-Jahre auch die aufstrebenden Volkswirtschaften, die stärker in die globalen Lieferketten integriert wurden. Der große Nachteil: Je stärker verästelt das System ist, desto anfälliger wird es. Und noch dazu gibt es für bestimmte Produkte nur sehr wenige hochspezialisierte Zulieferer – im Extremfall nur einen einzigen.

Firmen kämpfen mit der Verknappung bei Rohstoffen und Vorprodukten

Die Folgen haben wir alle während der Pandemie zu spüren bekommen. In der akuten Phase mussten auch hierzulande Fabriken ihre Tore schließen, nach einer Reihe von Produkten stieg dagegen die Nachfrage. Im Lockdown konnten die Verbraucher nicht mehr in Restaurants gehen, reisen oder andere kontaktintensive Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Dafür gaben sie mehr Geld für Computer oder andere elektronische Geräte aus. Diese erlaubten es ihnen, zu Hause zu arbeiten, zu lernen und zu spielen. Darauf sind die globalen Lieferketten nicht ausgelegt.

Die Wissenschaftler fragen bei Unternehmen regelmäßig ab, wie sehr sie mit Produktionsbehinderungen durch Engpässe bei Rohstoffen beziehungsweise Vorprodukten zu kämpfen haben. „Zu Beginn des zweiten Corona-Winters etwa beantworteten vier von fünf Firmen aus dem verarbeitenden Gewerbe diese Frage mit Ja. Der ifo-Knappheitsindikator, der dies abbildet, stieg auf 81,9 – einen Höchstwert“, berichtet Flach.

Begehrte Ware:

An der Chip-Produktion, wie hier in Taiwan, hängt die digitalisierte Welt. Die globalen Hightech-Giganten sind darauf angewiesen, dass die Lieferketten nicht reißen.

© Annabelle Chih/Getty Images

Größere Aufmerksamkeit hat der Mangel an Halbleitern auf sich gezogen, der bis heute zu spüren ist. Silizium aus China typischerweise, genutzt zur Produktion von Wafern in Taiwan, weiterverarbeitet in Chips an der US-amerikanischen Westküste – diese Kette funktionierte nicht mehr. Das ließ nicht nur weltweit Bänder in der Autoproduktion stillstehen.

Auch die Herstellung vieler anderer Hightech-Güter vom Smartphone bis zum simplen Haushaltsgerät musste stark gedrosselt werden. Die Hoffnung, dass es sich lediglich um einen temporären Engpass handelt, hat sich als trügerisch erwiesen. Denn zusätzlich zu den pandemiebedingten Einschränkungen bringen auch die weltpolitischen Erschütterungen des Jahres 2022 die fein durchgetakteten globalen Lieferketten durcheinander.

Engpässe bei Halbleitern gelten als „besonders kritisch“

„Durch den russischen Krieg gegen die Ukraine müssen die globalen Lieferketten nach Corona mit einem zweiten Schock zurechtkommen, der diesmal mit erhöhten geopolitischen Risiken einhergeht“, sagt Lisandra Flach. Der Krieg hat nicht nur eine humanitäre Katastrophe ausgelöst, er behindert auch die Warenströme. Viele Verbindungen zwischen Westeuropa und China laufen über die Ukraine oder Belarus als Transitländer. Und wegen der gegen Russland verhängten Sanktionen werden Zugverbindungen zwischen China und Europa über russisches Territorium teilweise ausgesetzt.

Hinzugekommen sind Befürchtungen, dass der Dauerkonflikt zwischen China und Taiwan weiter eskalieren und die globalen Lieferketten noch mehr belasten könnte. Europa beispielsweise sei von Halbleitern aus Taiwan noch abhängiger als von Energie aus Russland, warnen Chiphersteller. Wenn der Nachschub aus Taiwan ganz zum Erliegen käme, hätte das tiefgreifende Auswirkungen auf alle Wirtschaftsbereiche, und zwar weltweit.

Politik und Wirtschaft jedenfalls sind alarmiert, nicht nur was die Halbleiterkrise angeht. „Importierte Vorleistungen spielen für die deutsche Exportwirtschaft eine zentrale Rolle. 27 Prozent der deutschen Exporteure sind auch Importeure, und auf diese Firmen entfallen über 95 Prozent des gesamten deutschen Handels“, heißt es in einer Studie, an der Lisandra Flach maßgeblich beteiligt war. Es gehe also bei den importierten Vorleistungen um einen „wesentlichen Bestandteil der deutschen Wettbewerbsfähigkeit“, lautet das Fazit der Wissenschaftler.

Doch welche Gegenstrategien verfolgt die Wirtschaft? „Wir befragen regelmäßig Industrieunternehmen, ob sie ihre Beschaffungsstrategie ändern wollen, und bereits vergangenes Jahr haben knapp 40 Prozent der Firmen derartige Pläne geäußert“, berichtet Flach. Mittlerweile, so ergab eine weitere Umfrage Mitte dieses Jahres, die Wissenschaftler um Flach im Oktober veröffentlichten, haben bereits fast neun von zehn Unternehmen reagiert. Um die Resilienz der Lieferketten sicherzustellen, also deren Fähigkeit, auch bei Schocks weiter zu funktionieren, gibt es mehrere Optionen. Dazu gehören die Diversifizierung der Lieferkette in Bezug auf Zulieferer oder der Aufbau größerer Lagerbestände, um vorübergehende Versorgungsengpässe besser zu meistern.

Die US-Finanzministerin Janet Yellen geht sogar noch einen Schritt weiter und fordert, angesichts von Embargo und Erpressung die Handelspartner nach Freund und Feind zu sortieren. Lisandra Flach gibt jedoch zu bedenken: „Unsere Analysen zeigen, dass die Folgen einer Entkopplung von autokratischen Staaten die deutsche Wirtschaft kurzfristig teuer zu stehen kämen.“ Wenn sich auch auf längere Sicht die Kosten wieder verringerten, dürfe man sie nicht unterschätzen.

Lisandra Flach und ihre Kollegen haben das durchgerechnet: „Ein Handelskrieg mit China könnte für uns sechsmal so teuer werden wie der Brexit“, warnt sie. Selbst wenn es gelänge, die Lieferungen aus autokratischen Staaten zugunsten von Ländern, die ähnliche Werte wie wir teilen, zu verringern, wäre die Versorgung mit Rohstoffen und Vorprodukten nicht gewährleistet. „Umweltrisiken oder Cyberrisiken können auch in vermeintlich sicheren Ländern jederzeit die Lieferketten unterbrechen“, stellt die Wissenschaftlerin klar.

„Bereits minimale Störungen legen im Extremfall ganze Produktionszweige lahm, wenn der Nachschub stockt”, sagt Ökonomin Lisandra Flach.

© Stephan Höck / LMU

Ein Reshoring hätte negative Auswirkungen auf unseren Wohlstand

Also doch eher mehr Autarkie anstreben und die Produktion von Vorprodukten ins Inland zurückholen? Keine gute Idee, hält Flach dagegen: „Dank unserer komplexen Lieferverflechtungen erzielen wir hohe Effizienzgewinne. Ein Reshoring hätte negative Auswirkungen auf unseren Wohlstand. Es würde unsere Wettbewerbsfähigkeit schmälern und nach unseren quantitativen Analysen die Wirtschaftsleistung, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, langfristig um rund zehn Prozent verringern.“ Bei einem sogenannten „Nearshoring“ in benachbarten Ländern etwa wären es immerhin gut vier Prozent.

Aus diesem Grund sieht sie auch staatliche Eingriffe in die Lieferketten skeptisch, weil sie mit hohen Kosten verbunden seien. „In Ausnahmefällen und bei wichtigen Gütern könnte es sinnvoll sein“, schränkt sie ein. Doch müsse man dann die Frage klären, was genau ein kritisches Produkt sei, das diesen Eingriff rechtfertige.

Das Abwägen zwischen Widerstandsfähigkeit und Kosten

Viel wichtiger sei, so fordert Lisandra Flach, „dass die Politik klare Rahmenbedingungen für Unternehmen schafft, damit sie ihre Lieferketten besser geographisch diversifizieren können.“ Denn das sei die Lehre aus den jüngsten Krisen: Es gelte, einseitige Abhängigkeiten zu vermeiden, gerade von politisch unsicheren Staaten. Das macht das Gezerre um den Ersatz für russische Gaslieferungen derzeit überdeutlich. Der Konflikt in der Ukraine hat dazu geführt, dass sich politische Allianzen noch deutlicher in regionale Handelsblöcke aufspalten. „Wir müssen die Schwachstellen in den Lieferketten beseitigen, insbesondere bei einseitigen Abhängigkeiten, wie sie bei Energie und Rohstoffen für Schlüsseltechnologien zu beobachten sind“, rät Flach.

Wie es um das Ausmaß solcher Abhängigkeiten steht, haben die Münchner Wissenschaftler erst vor Kurzem genauer untersucht. Die Europäische Union definiert 23 Materialien als entscheidend für die Produktion von Schlüsseltechnologien. Lisandra Flach und ihr Team haben aus dieser Liste neun Rohstoffe ermittelt, bei denen es besonders eng ist. Von Stoffen wie Kobalt, Bor, Silizium, Graphit und seltenen Erden besteht eine „kritische Abhängigkeit“: Die Zahl der Zulieferer ist klein, der Markt stark konzentriert und der Bedarf gleich für mehrere Schlüsseltechnologien unverzichtbar.

Politische Entscheidungsträger und Unternehmen stehen vor der schwierigen Aufgabe, ihren Wunsch nach mehr Widerstandsfähigkeit der Lieferketten mit den Kosten abzuwägen. Denn Ersatzlieferanten oder eine größere Lagerhaltung sind nicht umsonst zu haben. Die optimale Wahl hängt von den länderspezifischen Umständen und der Risikotoleranz ab. Umfragen der Münchner Wissenschaftler zufolge setzen Großunternehmen eher auf eine stärkere Diversifizierung bei der Beschaffung, kleinere Firmen eher auf eine Ausweitung der Lagerhaltung.

Die Politik, so fordert Lisandra Flach, solle „verlässliche außenwirtschaftliche Rahmenbedingungen für Unternehmen schaffen“. Deutschland und die EU sollten zudem auf eine Reform der Welthandelsorganisation (WTO) drängen, um von der „Versicherungsfunktion des internationalen Handels“ zu profitieren. Wie gut all die Gegenmaßnahmen greifen können in einer dramatisch veränderten Weltlage, wird sich nicht zuletzt daran zeigen, was unsere Konsumwirtschaft in Zukunft tatsächlich ausliefern kann.

Text: Andreas Schuck

Prof. Dr. Lisandra Flach ist Professorin für Volkswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Ökonomik der Globalisierung an der LMU und leitet das ifo Zentrum für Außenwirtschaft am ifo Institut – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München e.V. Lisandra Flach, Jahrgang 1983, studierte Volkswirtschaft an der Universidade do Estado de Santa Catarina und der Universidade Federal de Santa Catarina, beide in Florianopolis, Brasilien. Promoviert wurde sie an der Universität Mannheim, bevor sie im Jahr 2012 an die LMU kam. Seit 2020 ist sie Lehrstuhlinhaberin.

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