News

„Wissenschaft ist dann am besten, wenn sie international zusammenarbeitet“

23.05.2022

Was bedeutet der Krieg in der Ukraine für die Wissenschaft? Nachgefragt bei LMU-Ökonom Fabian Waldinger.

Universität Kiew

Der Eingang der Universität in Kiew, 13. März 2022 | © IMAGO/ZUMA Wire/ Mohammad Javad Abjoushak

Fabian Waldinger ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der LMU. In seiner Forschung beschäftigt er sich unter anderem mit der Emigration jüdischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Nazi-Deutschland.

Was bedeutet der Krieg in der Ukraine für die Wissenschaft? Sie haben die Effekte der ersten beiden Weltkriege auf die Wissenschaft untersucht. Könnten Sie vor diesem Hintergrund mögliche Folgen skizzieren?

Fabian Waldinger: Man könnte sich, grob gesagt, zwei Entwicklungen vorstellen. Zum einen, dass durch den Krieg in der Ukraine viele Wissenschaftler emigrieren werden, sowohl aus der Ukraine als auch aus Russland. Das ist für diese Länder potenziell katastrophal. Für Länder, die gute Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aufnehmen, ist es natürlich eine Chance. Das zweite, was ich befürchte und wo meine Sorgen auch auf meiner Forschung basieren, ist: Falls es zu einem Boykott russischer Wissenschaftler kommen sollte, könnte das auch den wissenschaftlichen Fortschritt insgesamt auf lange Sicht verlangsamen.

Als die Wissenschaft in zwei Lager zerbrach

Sie haben unter anderem untersucht, wie sich der Stopp der internationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit zwischen den beiden Weltkriegen ausgewirkt hat. Was ist damals passiert?

Wir haben uns die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg angesehen. Seitens der Wissenschaftler der alliierten Länder – Frankreich, USA, England – gab es einen Boykott von Wissenschaftlern aus Deutschland, Österreich und den anderen Zentralmächten. Der Grund war, dass diese Wissenschaftler, vor allem aus Deutschland, Chemiewaffen mitentwickelt hatten.

Sie durften dann nicht mehr zu internationalen Konferenzen fahren und auch die Fachzeitschriften wurden nicht mehr gegenseitig bestellt. Die wissenschaftliche Welt, die vor dem Ersten Weltkrieg integriert war, ist also plötzlich in zwei Lager auseinandergebrochen.

Was waren die Folgen?

Die Wissenschaftler hörten auf, sich gegenseitig zu zitieren. Und die Produktivität von jenen, die zuvor besonders auf wissenschaftlichen Ergebnissen aus dem Ausland aufgebaut haben, ist stark zurückgegangen.

Es hat also beiden Seiten geschadet, der Boykott führte auch zu Verlusten auf Seiten der alliierten Wissenschaftler. Das zeigt, dass sich ohne den weltweiten Austausch von Ideen der wissenschaftliche Fortschritt verlangsamt.

Mehr als 80 Prozent der jüdischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler emigrierten aus dem NS-Staat

Sie haben auch die Emigration jüdischer Akademiker aus Nazi-Deutschland untersucht. Welche Effekte konnten sie nachzeichnen?

Fabian Waldinger: Es sind sehr viele jüdische Wissenschaftler emigriert, prozentual gesehen wesentlich mehr Menschen als von der jüdischen Bevölkerung insgesamt, sodass über 80 Prozent dem Holocaust entkommen sind.

Sie haben sich in der ganzen Welt verteilt, sind aber hauptsächlich in die Länder mit guten Universitäten gegangen, die USA und England haben davon im Grunde am meisten profitiert.

Für die deutschen Universitäten waren die Emigrationen dagegen verhängnisvoll. Gerade für die Fakultäten, die viele Wissenschaftler verloren haben, war es ein sehr großer Schock. An ihnen wurde noch 50 Jahre später weniger publiziert als an Fakultäten, wo weniger jüdische Wissenschaftler entlassen wurden. Es war damals insofern eine besondere Situation, als die jüdischen Wissenschaftler im Schnitt besser qualifiziert und erfolgreicher waren als ihre nicht-jüdischen Kollegen.

Auf der anderen Seite war es ein sehr großer Gewinn für die Länder und Forschungsgebiete, die hochqualifizierte Wissenschaftler aufgenommen haben. Gerade in der Chemie, wo viele jüdische Wissenschaftler in die USA emigrierten, wurden auf einmal viel mehr Patente angemeldet. Da lässt sich nachzeichnen, dass mit diesen Menschen ihr Wissen in die USA gekommen ist.

Wie haben die deutschen Universitäten und betroffenen Fakultäten angesichts dieser Verluste wieder aufgeholt?

Waldinger
: Man könnte sagen, sie haben nie aufgeholt. Allein wenn man sich die Nobelpreise anschaut: 20 jüdische Nobelpreisträger sind damals entlassen worden. Vor 1938 war Deutschland bei der Zahl der Nobelpreisträger absolut führend, vor allem in Chemie und Physik. Das ist durch die Emigration stark zurückgegangen, auch wenn es inzwischen wieder leicht zunimmt. Und die USA, wohin die meisten jüdischen Wissenschaftler emigrierten, haben auf einmal viel mehr Preise erhalten. Natürlich sind die Emigrationen nicht der einzige Grund. Aber sie haben sicherlich dazu beigetragen.

Viele Länder nehmen zurzeit ukrainische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf. Lässt sich aus Ihren Forschungsergebnissen lernen, worauf es dabei ankommt?

Es ist vordringlich, dass man den Wissenschaftlern, wenn sie emigrieren, gute Arbeitsbedingungen ermöglicht, damit sie ihre Forschung weiter vorantreiben können. Unsere Untersuchungen zeigen auch, dass viele der jüdischen Top-Wissenschaftler durch die Emigration der Wissenschaft verloren gegangen sind. Nicht alle haben wieder eine Stelle an einer Universität gefunden, das lag auch daran, dass es in den USA ebenfalls Antisemitismus gab.

Machte es einen Unterschied, in welchem Alter die Personen emigrierten?

Natürlich ist es sowohl für Senior-Wissenschaftler als auch für jüngere sehr wichtig, weiter forschen und arbeiten zu können. Aber zumindest in meiner Forschung zeigt sich, dass es für Professoren einfacher ist, eine neue Position im Ausland zu finden als für jüngere Forschende, weil sie bereits über entsprechende Kontakte verfügen. Doktorandinnen und Doktoranden haben es dagegen sehr schwer, wenn sie ihre Doktormutter oder -vater nicht direkt mitnimmt.

Meine Forschung zeigt, dass damals in Deutschland auch die dort gebliebenen jüngeren Forscher sehr stark beeinträchtigt wurden, vor allem Doktoranden. Sie waren auf einmal an einer Fakultät, in der sehr gute Wissenschaftler als Doktormütter und -väter fehlten. Das hat sich auf ihre Karrieren ausgewirkt, sie haben weniger publiziert und wurden seltener Professoren.

Junge Wissenschaftler können nicht so leicht ausweichen. Sie sind viel mehr daran gebunden, dass vor Ort ausgezeichnete Forscher sind.

News

Krieg in der Ukraine: Interviews mit LMU-Forschenden

Weiterlesen

Ihre Forschung reicht bis zu 100 Jahre zurück. Lassen sich dennoch Parallelen ziehen, wie Krieg und Emigration auch heute die Wissenschaft bedrohen?

Es hat sich nicht so viel verändert, das muss man wirklich sagen. Universitäten funktionieren noch immer sehr ähnlich und Emigrationen waren früher auch nicht so anders als heute. Natürlich waren die Gründe andere, aber wie sich beides auf den Wissenschaftsbetrieb auswirken kann, das ist, glaube ich, vergleichbar.

Ich selbst bin ein sehr global ausgebildeter Wissenschaftler und habe unglaublich davon profitiert, dass ich meine Ausbildung vor allem in England und den USA gemacht habe. Und so geht es vielen anderen auch. Die Wissenschaft ist immer dann am besten, wenn sie international zusammenarbeitet. Nationale Alleingänge funktionieren in der Wissenschaft nicht.

Prof. Fabian Waldinger

Professor Fabian Waldinger | © LMU

Professor Fabian Waldinger wurde an der London School of Economics und der Universität Passau ausgebildet. Er war Associate Professor an der University of Warwick sowie der London School of Economics, bevor er 2018 an die LMU berufen wurde. Während eines Forschungsaufenthalts an der Harvard University fiel ihm auf, dass die Eingangsstempel mancher Journale aus der Zwischenkriegszeit eine Verzögerung von mehreren Jahren gegenüber dem Erscheinungsjahr trugen – ein Fund, der eine umfangreiche Forschung anstieß und unter anderem zu der Veröffentlichung „Frontier Knowledge and Scientific Production: Evidence from the Collapse of International Science“ führte.

Als Doktorand in Berkeley entdeckte Fabian Waldinger in der dortigen Bibliothek ein Originaldokument zur Emigration jüdischer Wissenschaftler: die „List of Displaced German Scholars“, die dabei helfen sollte, für diese eine neue Position zu finden. Dieser Fund war die Grundlage eines umfangreichen Forschungsprogramms zur Emigration von jüdischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in der Nazi-Zeit.

Wonach suchen Sie?