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Ukraine: Expertise von LMU-Forschenden

31.05.2022

Putins Reden verstehen, mögliche Folgen des Kriegs einschätzen: Nachgefragt bei Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen.

Charkiw, Ukraine, 29. April 2022

© IMAGO / ZUMA Wire / Alex Chan / Tsz Yuk_

Blick in die Geschichte

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Interview: „Putin betreibt ein Retroprojekt“

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Wie sind Argumentation und Ziele der russischen Regierung im Krieg gegen die Ukraine historisch zu bewerten?

„Der Angriff Russlands auf die Ukraine ist keineswegs mit den offiziell von der russischen Regierung vorgegebenen Zielen zu erklären. Es geht Putin nicht wirklich um die Zurückdrängung der NATO und auch nicht um die Selbstbestimmung der russischen Bevölkerung in der Ukraine", sagt Martin Schulze Wessel, Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte Ost- und Südosteuropas an der LMU im Interview vom 2. März 2022.

„Meine These ist, dass Putin ein Retroprojekt betreibt. Er hat schon oft gesagt, dass der Zerfall der Sowjetunion die größte geostrategische Katastrophe unserer Zeit darstellt. Es geht ihm um eine Revision verloren gegangener Verhältnisse. Putin will die Auflösung der Sowjetunion rückgängig machen und ihre ehemaligen Republiken wieder in einen Machtzusammenhang mit dem Kreml als Zentrum bringen."

Rechtliche Perspektive

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Interview: „Das Recht in sein Gegenteil verkehrt“

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Wie sind die Invasion der Ukraine und die Begründung Putins dafür völkerrechtlich einzuordnen?

„Die russische Regierung kombiniert falsche oder bestenfalls unbelegte Behauptungen mit umstrittenen Rechtspositionen so, dass das Recht in sein Gegenteil verkehrt wird", sagt Christian Walter, Inhaber des Lehrstuhls für Völkerrecht und Öffentliches Recht an der LMU, im Interview vom 2. März 2022.

„Fundamentale Grundsätze des Völkerrechts wie die territoriale Integrität und das Gewaltverbot werden mit fadenscheinigen Argumenten auf der Basis des Selbstbestimmungsrechts der Völker, das den Russen im Donbass angeblich vorenthalten wird, übergangen, um einen Angriffskrieg zu rechtfertigen. Tatsächlich ist es eben keine kleine Militäroperation, wie von Putin behauptet, sondern es ist ein militärischer Angriff, der alle Voraussetzungen einer Aggression im Sinne der UN-Definition von 1974 erfüllt."

Kommunikationswissenschaftliche Perspektive

Die Berichterstattung zum Krieg in der Ukraine habe „bei vielen Menschen ein Gefühl der Bedrohung ausgelöst, das schon lange vergessen war", sagt Thomas Hanitzsch, Inhaber des Lehrstuhls für Kommunikationswissenschaft mit Schwerpunkt Journalismusforschung an der LMU, im Interview am 16. März 2022.

„Ich erinnere mich gut an das eine Video aus dem Kreml, in dem Putin hinter seinem Schreibtisch saß und verkündete, dass er die Abschreckungsstreitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt hat. Das hat bei sehr vielen Menschen dazu geführt, dass sie sich erinnert fühlten an Zeiten vor 40, 50, 60 Jahren. Da wurden plötzlich Ängste reaktiviert.

Wir hatten uns in Westeuropa seit den 90er-Jahren in einer Wohlfühlzone ganz gut eingerichtet. Und das ist jetzt mit einmal weggebrochen."

Analysen aus der Literaturwissenschaft

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Interview zu Putins Rhethorik: "Bis zum Äußersten"

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Wie sind Putins Reden zum Krieg gegen die Ukraine zu verstehen? Literaturwissenschaftler Riccardo Nicolosi, Lehrstuhlinhaber für Slavische Philologie an der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der LMU, erkennt eine Eskalation, die schon vor Jahren begann:

„Putin hat eine ganze Abteilung mit Dutzenden Redenschreibern und Fachexperten, die alle für unterschiedliche Themen zuständig sind. Trotzdem wissen wir mit ziemlicher Sicherheit, dass er auch selbst an seinen Reden mitschreibt und Schwerpunkte vorgibt. Die Frage ist: Was glaubt Putin selbst? Ich denke, dass er davon überzeugt ist, dass sich Russland in einem entscheidenden Kampf gegen den Westen befindet. Das Thema zieht sich wie ein roter Faden durch seine Präsidentschaft", sagt Nicolosi im Interview vom 21. März 2022.

Juliane Prade-Weiss, Inhaberin einer Professur für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft mit besonderer Berücksichtigung osteuropäischer Literaturen an der LMU, forscht über Diskurse zur Massengewalt.

Im Interview am 29. April 2022 sagt sie: „Zur Rechtfertigung von Massengewalt werden oft historische Narrative bemüht. Sie konstruieren Rückbezüge, die wie im Falle Putins ein paar Jahrzehnte umfassen können, durchaus aber auch Jahrhunderte oder gar Jahrtausende. Es gibt immer wieder auch Rechtfertigungsrhetoriken, die sich religiöser Motive bedienen.

Schwierig ist, dass die historischen Erzählungen, die da bemüht werden, in einem einfachen Sinne oft nicht stimmen. Geschichte ist immer eine Erzählung, die auf Fakten basiert. Aber die Frage, wie man diese Fakten miteinander verbindet und, vor allen Dingen, welche Schlussfolgerungen eine Gesellschaft aus dem zieht, was geschah, ist immer eine Frage der Rekonstruktion und der Reinterpretation. Das aber räumt auch die sinistere Möglichkeit ein, diese Rekonstruktion eben nicht dazu einzusetzen, weitere Massengewalt zu verhindern, sondern genau zu ihrer Wiederholung."

Einschätzung eines Traumaexperten

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Interview: „Wir rechnen mit vielen psychischen Problemen"

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Flucht unter Lebensgefahr, während die Angehörigen teilweise noch vor Ort sind. Was macht das mit den geflüchteten Menschen aus der Ukraine in Deutschland? Nachgefragt bei Thomas Ehring, Inhaber des Lehrstuhls für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der LMU sowie Leiter der Psychotherapeutischen Hochschulambulanz:

„Grundsätzlich ist es hilfreich, wenn Kinder und Jugendliche in die Schule, aber auch Erwachsene in Ausbildung oder Beruf integriert werden. Das kann stabilisierend wirken. Wichtig ist, dass eine Struktur entsteht und Perspektiven aufgezeigt werden.

Wenn geflüchtete Menschen merken, dass sie dauerhaft keiner sinnvollen Beschäftigung nachgehen können, wirkt sich das negativ aus. Generell braucht es vor allem am Anfang viel Verständnis, weil die Personen oft nicht wissen, wie es ihrer Verwandtschaft geht, und entsprechend in großer Sorge sind", sagt Thomas Ehring im Interview am 20. April 2022.

Aus Sicht der Geographie

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Interview: „Engpässe in vielen Regionen der Welt"

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In einem Interview am 28. März 2022 zeigt PD Dr. Florian Zabel, Geograph an der Lehr- und Forschungseinheit Hydrologie und Fernerkundung der LMU, auf, welche Folgen der Angriff auf die Ukraine für die Welternährung hat:

„Weizen ist in den Ländern Nordafrikas ein zentrales Nahrungsmittel. Er ist dort maßgeblich für die Ernährungssicherung. Zum Vergleich: In Deutschland werden 70 Prozent des Getreides als Futtermittel für Tiere verwendet. In Ländern Nordafrikas ist das anders. Für die Menschen in armen Ländern sind bereits kleinere Preissteigerungen, wie wir sie längst sehen, überaus problematisch."

Perspektive der Wirtschaftswissenschaft

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Interview: „Massive Eintrübung durch den Krieg"

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Am 22. April 2022 schätzt Monika Schnitzer, Inhaberin des Lehrstuhls für Komparative Wirtschaftsforschung an der Volkswirtschaftlichen Fakultät der LMU und Wirtschaftsweise, in einem Interview die ökonomischen Folgen des Kriegs in der Ukraine ein.

Um einen Ausblick gebeten, sagt sie: „Die Bundesrepublik muss sich diversifizieren, unabhängiger machen von einzelnen Ländern und Unternehmen, von denen bisher Rohstoffe und Vorprodukte bezogen werden – nicht nur mit Blick auf eine mögliche Erpressbarkeit.
So bezieht zum Beispiel die deutsche Automobilindustrie rund die Hälfte ihrer Kabelbäume aus der Ukraine. Aktuell fällt diese Quelle aus, deshalb stehen in Wolfsburg gerade die Bänder still.
Es gibt aber auch bestimmte Güter, bei denen zusätzlich Sicherheitsbedenken angebracht sind. Vor bestimmten Software-Produkten, wie etwa Virenschutzprogrammen des russischen Unternehmens Kaspersky, wird jetzt von offizieller Stelle gewarnt. Früher habe ich das Risiko geringer eingeschätzt, inzwischen würde ich sagen: Es geht nicht nur um die technische Qualität und den Preis, sondern auch um die Nationalität des Unternehmens – und ob dessen Regierung das Produkt nicht als Einfallstor für Cyber-Attacken missbrauchen könnte."

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Interview: „Nationale Alleingänge funktionieren in der Wissenschaft nicht"

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Fabian Waldinger, Professor für Volkswirtschaftslehre an der LMU, beschäftigt sich in seiner Forschung unter anderem mit der Emigration jüdischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem nationalsozialistischen Deutschland.

In einem Interview am 23. Mai 2022 spricht er darüber, was der Krieg in der Ukraine für die Wissenschaft bedeutet, und sagt: „Wissenschaft ist immer dann am besten, wenn sie international zusammenarbeitet. Nationale Alleingänge funktionieren in der Wissenschaft nicht.“

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