News

Interview zum Krieg in der Ukraine: Bilder außer Kontrolle

16.03.2022

Was die Berichterstattung zum Krieg in der Ukraine bestimmt: ein Interview mit dem Kommunikationswissenschaftler Thomas Hanitzsch.

Feuer in einem Hochhaus in Kiew, Ukraine

Brennendes Hochhaus in Kiew, Ukraine, März 2022 | © State Emergency Service of Ukraine/Cover Images

Professor Thomas Hanitzsch ist Inhaber des Lehrstuhls für Kommunikationswissenschaft mit Schwerpunkt Journalismusforschung.

Wie ordnen Sie die aktuelle Berichterstattung zum Krieg in der Ukraine ein im Vergleich zu anderen Kriegen?

Thomas Hanitzsch: Ich glaube, was entscheidend anders ist: Die meisten Konflikte, die wir in Deutschland aus den Medien kennen, sind geographisch weiter weg. Aber dieser Konflikt findet in Europa statt – nicht nur vor unserer Haustür, sondern quasi schon drin im Haus. Da hat die Berichterstattung eine ganz andere Dramatik.

Sie hat auch bei vielen Menschen ein Gefühl der Bedrohung ausgelöst, das schon lange vergessen war. Ich erinnere mich gut an das eine Video aus dem Kreml, in dem Putin hinter seinem Schreibtisch saß und verkündete, dass er die Abschreckungsstreitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt hat. Das hat bei sehr vielen Menschen dazu geführt, dass sie sich erinnert fühlten an Zeiten vor 40, 50, 60 Jahren. Da wurden plötzlich Ängste reaktiviert.

Wir hatten uns in Westeuropa seit den 90er-Jahren in einer Wohlfühlzone ganz gut eingerichtet. Und das ist jetzt mit einmal weggebrochen.

Krieg der Bilder

Die Bilder, die von Putin zu sehen sind, wirken völlig anders als jene von dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj. Was fällt Ihnen daran auf?

Die Bilder von Selenskyj passen in das Schema „David gegen Goliath“. Auf der einen Seite der übermächtige Gegner, der mit orchestrierten Bildern versucht, Macht zu demonstrieren. Denken Sie zum Beispiel an die Fotos von Putin und seinen Gästen an dem langen Tisch. Das soll Dominanz vermitteln.

Auf der anderen Seite steht die schwächere Partei, die um Beistand bittet. Das trifft auf Erzählmuster, die wir schon als Kinder kennengelernt haben. Es hilft uns dabei, das Geschehen relativ schnell einzuordnen, und führt dazu, dass man sich intuitiv auf die Seite des Schwächeren stellt.

Teilweise sind Selfies zu sehen, auch von Selenskyj. Kommt einem das Geschehen auch dadurch näher?

Natürlich bekommt durch die direkte Ansprache des ukrainischen Präsidenten das Ganze noch einmal eine stärkere Brisanz. Wer so ein Video sieht, kann sich der unmittelbaren Wirkung, die es entfaltet, nur schwer entziehen.

Es heißt, der Kreml habe den „Krieg der Bilder“ bereits verloren. Was ist damit gemeint?

Von russischer Seite wurden sehr viele Anstrengungen unternommen, diesen Krieg im Vorfeld propagandistisch vorzubereiten, also ein Narrativ zu erschaffen, das die russische Invasion legitimiert. Aber die Bilder, die jetzt außerhalb russischer Kontrolle vom Krieg entstanden sind und zunehmend zirkulieren, erzählen genau das Gegenteil: die Geschichte einer moralischen Niederlage durch die vielen Opfer, die dieser Krieg fordert. So wie das Schicksal der schwangeren Frau in Mariupol, die in einer beschossenen Klinik ihren Verletzungen erlegen ist. Nun wird dieser Krieg vermutlich noch länger dauern und es wird sicherlich mehr solcher Bilder geben. Damit hat die russische Führung die Deutungshoheit über den Konflikt ultimativ verloren.

Fake News auf Social Media

News

Lesen Sie auch das Interview zum Völkerrecht mit Prof. Walter

Weiterlesen

Der Krieg gegen die Ukraine bestimmt die Berichterstattung etablierter Medien. Dennoch informieren sich viele über Social Media wie Tiktok und Kanäle wie Telegram, wo es auch viele Falschinformationen gibt. Woran lassen sich verlässliche Nachrichten erkennen?

Bei dem, was in den Sozialen Medien verbreitet wird, muss man davon ausgehen, dass niemand geprüft hat, ob die Informationen tatsächlich authentisch sind. Das gilt auch und vor allem für Bildmaterial, das vermeintlich vom Kriegsschauplatz stammt.

Journalistinnen und Journalisten haben mit ihren Redaktionen die entsprechenden Ressourcen und etablierte Mechanismen zur Verfügung, um sicherzustellen, dass eine Quelle glaubhaft ist und sich Informationen bestätigen lassen. Deswegen ist meine Empfehlung, auf etablierte Nachrichtenangebote zurückzugreifen. Natürlich kann man auch Soziale Medien nutzen. Man muss sich aber darüber klar sein, dass vieles, was man dort findet, nicht verifiziert ist und zumindest einiges falsch ist.

Worauf müssen Journalisten achten, wenn sie einen Krieg redaktionell begleiten?

Zu Beginn der 90er-Jahre mit dem Golfkrieg kam verstärkt Kritik daran auf, wie Medien Konflikte abbilden, dass sie oft in vereinfachte Metaphern gepackt werden. Es ist natürlich der Job von Journalistinnen und Journalisten, komplexes Tagesgeschehen vereinfacht darzustellen. Allerdings wird seither stärker hinterfragt, wie Konfliktparteien gezeigt werden. Wie groß ist der Anteil der Berichterstattung, der zum Beispiel auf Kampfhandlungen entfällt, im Vergleich zu Schäden und Opfern? Kommen auch Menschen zu Wort, die unmittelbar betroffen sind, und nicht nur die Militärführer?

Berichterstattung zum Krieg in der Ukraine: kurzatmig

News

Lesen Sie das Interview zur historischen Einordnung des Kriegs

Weiterlesen

Wird das im Moment ausreichend berücksichtigt?

Wenn ein Konflikt relativ unvermittelt ausbricht, dann konzentriert sich die Berichterstattung in Ermangelung anderer Quellen auf offizielle Darstellungen, die aus Regierungs- und Militärkreisen kommen sowie von Expertinnen und Experten, die ja auch zu den gesellschaftlichen Eliten gehören. Da reagiert der Journalismus in erster Linie.

Erst im Verlauf des Konflikts, und das können wir auch jetzt beobachten, richtet sich die Perspektive der Berichterstattung auch auf die Auswirkungen des Krieges. Inzwischen werden häufiger Geschichten von Opfern erzählt und von den Fluchtbewegungen als noch vor zwei Wochen, als es vor allem darum ging, ob dieser Krieg auch uns in der Europäischen Union erreichen kann.

Wie wird sich die Berichterstattung wohl weiterentwickeln?

Das Geschehen in der Ukraine ist enorm dynamisch. In so einer Situation reagiert der Journalismus in der Tendenz eher, als dass er agiert. Auch der Bedarf an Nachrichten ist enorm groß in der Bevölkerung. Die Berichterstattung wird dadurch sehr schnell kurzatmig und die größeren Hintergründe geraten zunächst aus dem Blickfeld.

Momentan überdeckt die Berichterstattung zur Ukraine alles andere. Wir hören kaum noch etwas über Corona. Kaum jemand bekommt mit, dass wir im Grunde schon wieder in der nächsten Welle drin sind. Auch der Klimawandel ist kaum noch Thema. Das ist für die Nachrichtenlage sehr ungünstig, weil wir dadurch kein repräsentatives Bild vom Weltgeschehen bekommen. Nicht nur als Forscher, auch als Nutzer hoffe ich, dass die Medien bald wieder relevante Themen auf die Tagesordnung zurückbringen, die durch den Ausbruch des Krieges von der Agenda verdrängt wurden.

Wonach suchen Sie?