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Aus der Steppe in die Städte

20.11.2023

In der Mongolei vollzieht sich ein starker sozialer Wandel. Viele nomadische Hirten zieht es in die großen Ortschaften. Was das für Umwelt und Ökosysteme bedeutet, untersucht Geograph Lukas Lehnert. Aus dem Forschungsmagazin EINSICHTEN

Die mongolische Steppenlandschaft ist das größte Grünland-Ökosystem weltweit und von enormer globaler Bedeutung. In der Mongolei leben neben den berühmten Przewalski-Pferden die letzten frei lebenden Gazellen Eurasiens, die in Herden mit teilweise Tausenden von Tieren durch die Steppe ziehen und deren Landschaft prägen. Allein aufgrund seiner Einzigartigkeit und Artenvielfalt ist dieses System besonders schützenswert. Darüber hinaus speichern die Graslandschaften der Mongolei immense Mengen an Treibhausgasen.

Doch die Mongolei und die Lebensweise ihrer Bevölkerung ändern sich. Wirtschaft und Infrastruktur des Landes sind seit einigen Jahrzehnten einem grundlegenden Wandel unterworfen. Was genau das für das Ökosystem Steppe bedeutet, will die Arbeitsgruppe von LMU-Geograph Professor Lukas Lehnert herausfinden. Die LMU-Forschenden sind maßgeblich an einem groß angelegten Verbundprojekt mit verschiedenen Partnern aus Deutschland und vor Ort beteiligt.

Jurten in der mongolischen Steppe sind inzwischen mit Satellitenempfang und Solarpanels ausgestattet.

Nomadische Weidehaltung

Statt mit dem Pferd treibt man seine Herde heute mit dem Motorrad vor sich her, mobile Solarpanels sorgen für Strom in den Jurten, Mobilfunknetz und Internetempfang werden immer flächendeckender.

© picture alliance / prisma | Blum Bruno
Jurte in der mongolischen Steppe

Endlose Weiten

„Weil das Land so flach ist, kann man oft kilometerweit sehen und unterschätzt die Entfernungen“, beschreibt Lehnert. „Benachbarte Jurten erscheinen ganz nah, obwohl sie eigentlich mehrere Stunden zu Fuß entfernt sind.“ | © picture alliance / Shotshop | robra

Die Wirtschaft der Mongolei hängt stark von den Bodenschätzen des Landes ab. Ein Großteil des Bruttoinlandsprodukts wird durch Kohlebergbau, Ölförderung und Kupferbergbau erwirtschaftet. Das bringt einerseits Wohlstand mit sich, andererseits aber auch Umweltzerstörung. Traditionell betreibt die mongolische Bevölkerung eine nomadische Form der Weidehaltung. Fernab von Großstädten und Bergbaugebieten ziehen nach wie vor viele Menschen mit ihren Schafen, Yaks, Rindern, Kamelen und Pferden durch die Landschaft. Dort gibt es Gras, so weit das Auge reicht, dazwischen stehen vereinzelt einige Jurten.

Das Leben als nomadischer Hirte ist arbeitsintensiv und entbehrungsreich. Es gibt weder Sanitäreinrichtungen noch Supermärkte. Die Kinder müssen aufs Internat gehen. Die Menschen leben aber nicht mehr wie vor hundert Jahren: Statt mit dem Pferd treibt man seine Herde heute mit dem Motorrad vor sich her, die Jurten werden mit dem LKW von einer zur nächsten Weide gefahren. Mobile Solarpanels sorgen für Strom in den Jurten, Mobilfunknetz und Internetempfang werden immer flächendeckender. So erhalten die Hirten Einblick in das moderne Stadtleben. Viele Familien entscheiden sich, die Steppe hinter sich zu lassen und in eine der Städte zu ziehen, wo sie sich angenehmere Lebensbedingungen und ein höheres und geregelteres Einkommen versprechen. Infolge dieser massiven Landflucht sind die Hauptstadt Ulaanbaatar und die Provinzstädte bereits extrem gewachsen.

Übergang ins Stadtleben

Der Alltag in der Großstadt steht im krassen Gegensatz zu dem in der Steppe. „Das Leben in den Städten ist im Prinzip wie bei uns“, sagt Lehnert. In der mongolischen Hauptstadt existiere allerdings etwas, das es so sonst nirgendwo auf der Welt gibt: „Ulaanbaatar ist zweigeteilt.“ Auf der einen Seite gibt es eine Stadt, die vergleichbar ist mit modernen amerikanischen oder europäischen Großstädten. Im Norden von Ulaanbaatar jedoch befinden sich sogenannte Jurtenviertel. Dort stehen, umzäunt von Holzzäunen, kleine Parzellen, in jeder davon eine Jurte. Hier kommen die Familien aus der Steppe an und lassen sich für die erste Zeit nieder. Sobald sie genug Geld angespart haben, bauen sie sich eine kleine Hütte dazu oder ziehen ins eigentliche Ulaanbaatar.

Die sogenannten Jurtenviertel in der mongolischen Hauptstadt.

Zwischenwelt am Stadtrand

In den Jurtenvierteln Ulaanbaatars kommen die Familien aus der Steppe an und lassen sich mit ihren Jurten nieder. Geheizt wird meist mit Kohle, um in die Stadt zu gelangen, braucht man ein Auto. Auch Abwasser- und Müllentsorgung sind ein Problem in den informellen Siedlungen.

© Lukas Lehnert
Einsichten-Cover: Echt Jetzt - Künstlich, Natürlich: Die Grenzen verschwimmen

Lesen Sie mehr über die Grenze zwischen Künstlichem und Natürlichem in der aktuellen Ausgabe unseres Forschungsmagazins EINSICHTEN unter www.lmu.de/einsichten. | © LMU

„Die Jurtenviertel sind weltweit einzigartig, man darf sie nicht mit einem Slum vergleichen, obwohl sie auf den ersten Blick vielleicht so aussehen“, erklärt Lehnert. Die Einkommensstruktur und die sozialen Verhältnisse seien ganz anders. Trotzdem bringen die informellen Jurten-Siedlungen massive Probleme für die Stadt mit sich. Um in die Stadt zu gelangen, ist immer ein Auto nötig, entsprechend dicht ist der Verkehr. An manchen Tagen besteht die ganze Stadt nur aus Stau. Die Jurten werden in den eiskalten Wintern fast ausschließlich mit Kohle beheizt. Ulaanbaatar ist oft von einer undurchdringlichen Smogwolke überzogen. Man kann dann kaum 200 Meter weit sehen.

Viele Menschen wollen zunächst auch ihre Tiere nicht aufgeben, sie dienen als Rückversicherung oder Altersvorsorge. Oft schließt sich eine Großfamilie zusammen und eine Person übernimmt die Herden von vier oder fünf Familien, oder es wird jemand für das Managen der Tiere angestellt. Meist werden diese Großherden nicht allzu weit von den Städten gehalten, wo sich die Beweidung dann stark auf ein bestimmtes Gebiet konzentriert.

Zerschnittene Landschaften

Die transmongolische Bahnstrecke ist komplett eingezäunt. Die Vegetation innerhalb und außerhalb des Zaunes unterscheidet sich deutlich.

Eingezäunte Gleise

Die Schienen der transmongolischen Eisenbahn sind komplett eingezäunt. Wildtierherden können dieses künstliche Hindernis nicht überwinden. | © Lukas Lehnert

Die traditionelle mongolische Landwirtschaft an sich ist kein Problem für die Umwelt. „Dieses Ökosystem wird natürlicherweise beweidet“, sagt Lehnert. Solange der Mensch das Land nicht zu stark übernutze, könne die Weidewirtschaft durchaus nachhaltig sein. Zum Problem werde sie erst, wenn der Beweidungsdruck zu hoch wird, was eine Degradation der Flächen nach sich zieht. Seit dem Jahr 1990 führten Wirtschaftseinbrüche und die Privatisierung der Herden zu einem extremen Anstieg der Viehzahlen. Es gibt insgesamt also mehr Nutztiere, die weniger mobil sind und sich um die bevorzugten Siedlungspunkte herum ballen.

Ein weiteres Problem ist die wachsende Infrastruktur, durch die die wilden Weidegänger in ihrer Mobilität eingeschränkt werden. Die Schienen der transmongolischen Eisenbahn verlaufen von der chinesischen Grenze im Süden bis zur russischen Grenze im Norden, zerschneiden also das ganze Land in zwei Teile. Weil die Gleise komplett eingezäunt sind, kann eine Gazellenherde diese künstliche Barriere nicht passieren. Dasselbe gilt für andere Bahnstrecken und Straßen, die vor allem in Bergbauregionen für den Transport von Gütern gebaut werden. „Wir haben Gazellen mit GPS-Sendern ausgestattet und konnten sehen, dass sie in Bergbauregionen hineinlaufen, dann aber nicht mehr hinausfinden“, so Lehnert.

Wie akut und schwerwiegend die Veränderungen für das natürliche Gleichgewicht der Steppe sind, will das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt „Mobilität im Wandel: Nachhaltige Entwicklung des Mongolischen Steppenökosystems (MORE STEP)“ herausfinden. An dem Verbundprojekt sind verschiedene wissenschaftliche Fachbereiche und Partnerinstitutionen aus Deutschland und der Mongolei beteiligt: die LMU, das Senckenberg Museum, das Institut für sozialökologische Forschung in Frankfurt, die TU Dresden sowie die Nationaluniversität und die Universität für Lebenswissenschaften in Ulaanbaatar. Neben den Natur- und Sozialwissenschaften werden auch NGOs, Naturschutzorganisationen sowie politische Akteure, Behörden und die Hirten einbezogen. Die LMU deckt mit Lehnerts Arbeitsgruppe den Bereich Fernerkundung ab, bei dem sie eng mit dem Senckenberg Museum zusammenarbeitet, das für die botanischen und zoologischen Analysen zuständig ist.

Wissenschaftlerinnen nehmen die Vegetation am Boden genau unter die Lupe.

Botanische Analysen

„Wir arbeiten unter anderem sehr kleinräumig, also mit einen Quadratmeter großen Plots“, erklärt Lehnert. „Vor Ort haben wir sogenannte Spektrometer-Aufnahmen durchgeführt. Das sind sehr hoch aufgelöste Daten, die man von den botanischen Plots erhält.“

© Daniel Svanidze

Ziel ist es, flächenhafte Informationen über den Zustand und Veränderungen der Vegetation und Biomasse bereitzustellen. Stark vereinfacht gilt dabei die Regel: je mehr Beweidung, desto weniger Biomasse. In der Realität ist die Sache allerdings etwas komplexer. „Wir haben in der Mongolei einen großen Klimagradienten: Im Süden liegt die Wüste Gobi und im Norden geht die Steppe bereits teilweise in Wald über“, erklärt Lehnert, der mit seinem Team auch Drohnen und Satellitendaten einsetzt.

Mongolisches Eisenbahn-Modell

Anhand ihrer Messungen können die Forschenden Aussagen darüber treffen, wo die Biomasse über die Zeit zu- oder abnimmt, und im Idealfall herausfinden, woran das liegt. In den vergangenen Jahren konnten sie bereits zeigen, dass die Ursachen komplex und örtlich sehr unterschiedlich sind. „Teilweise haben wir in einem Tal eine große Biomasse und im Nachbartal eine relativ geringe, obwohl Herdengrößen und Klima eigentlich identisch sind“, beschreibt Lehnert. „Hier scheinen zusätzliche Faktoren eine Rolle zu spielen, die wir noch nicht fassen können.“ Diesen Unbekannten auf die Schliche zu kommen, ist aktueller Fokus des Projekts. Ein heißer Kandidat: Steppenfeuer. Das Grasland der Mongolei brennt regelmäßig, jedoch wurde bisher kaum untersucht, wie sich das auf die Vegetation, Artzusammensetzung und Beweidungsqualität auswirkt.

Im Luftbild sieht man deutlich, wie sehr sich die Vegetation innerhalb des Zaunes von der außerhalb unterscheidet.

Drohnenbild der transmongolischen Bahnstrecke

„Entlang der gesamten transmongolischen Eisenbahn sieht man auf den ersten Blick, dass innerhalb des Zauns eine hochgewachsene, intensiv grüne Vegetation gedeiht, während es außerhalb sehr karg und gelb ist“, beschreibt Lehnert.

© Daniel Svanidze

Obwohl sie für die Wildtiere eine große Barriere darstellt, ist die eingezäunte transmongolische Zugstrecke für Lehnerts Untersuchungen besonders interessant. „Entlang der gesamten transmongolischen Eisenbahn sieht man auf den ersten Blick, dass innerhalb des Zauns eine hochgewachsene, intensiv grüne Vegetation gedeiht, während es außerhalb sehr karg und gelb ist“, beschreibt der Geograph. „Das ist also ein gutes Modell für uns, um zu sehen, wie groß die Biomasse über den gesamten Klimagradienten von Nord nach Süd ganz ohne Beweidung wäre, im Vergleich zur intensiven landwirtschaftlichen Beweidung direkt daneben.“ Daraus erhoffe man sich in den verbleibenden zwei Jahren des Projekts, die kleinräumigen Muster in der Biomasse besser zu verstehen.

Hirtenwissen trifft Hightech-Forschung

Für ihre Untersuchungen nutzen die Forscher Methoden der Fernerkundung mit Drohnen und Satellitendaten.

Die Steppe von oben erkunden

Für die Untersuchung der Biomasse setzen Lehnert und sein Team auch Drohnen und Satellitendaten ein. | © Karsten Wesche

Mit Vegetationsmodellierung simulieren die Forschenden, was passieren würde, wenn es wärmer wird oder sich die Viehzahlen verändern. So können sie Bereiche identifizieren, die bereits stark degradiert oder sogar unwiederbringlich zerstört sind, und solche, in denen die Lage eher entspannt ist, wo also noch mehr beweidet werden könnte. „Unsere Ergebnisse wollen wir den lokalen Akteuren zur Verfügung stellen. Wir entwickeln ein Informationssystem, das für Politik und Entscheidungsträger vor Ort einsehbar ist und ihnen dabei hilft, passende Maßnahmen zu ergreifen“, so Lehnert.

Auch den Hirten wollen sie die Informationen zur Verfügung stellen, in einer etwas vereinfachten Version für das Smartphone. Allerdings müsse man hier als Wissenschaftler eine gewisse Demut an den Tag legen. „In vielerlei Hinsicht kennen die Hirten ihr Land besser als unsere Satelliten es tun. Dieses traditionelle Wissen ist wahnsinnig wertvoll und keinesfalls zu unterschätzen.“ Der Nomadismus funktioniere eher informell und sei daher nur schwer zentral zu regulieren, ohne zu sehr in die Freiheit der Menschen einzugreifen. Ein vielversprechender Ansatz sind sich selbst organisierende Hirtenverbände. Denn, wie Lehnert betont, haben die Hirten selbstverständlich ein Interesse daran, dass ihre Weiden auch in Zukunft noch fruchtbar und nutzbar sind. „Der Status des Hirten genießt in der Mongolei ein sehr hohes Ansehen. Entsprechend großes politisches Gewicht hat die Meinung der Hirten und der Hirtenverbände.“

Wie geht es also weiter in der Mongolei? Ist die einzigartige Landschaft dem Untergang geweiht? Wird das Nomadentum über kurz oder lang aussterben? Lukas Lehnert glaubt, dass das nicht zwangsläufig der Fall sein muss. „Die Hirten sind stolz darauf, Hirten zu sein. Die meisten fühlen sich nicht arm, das Auskommen ist meistens auch gar nicht so schlecht. Sie sind oft sehr zufrieden.“ Die moderne Technologie ermögliche es ihnen inzwischen außerdem, in der Abgeschiedenheit Kontakt zu Freunden, Nachbarn und Familie zu halten und ihr Leben komfortabler zu gestalten.

Insgesamt habe die Mongolei das Potenzial, sich in einer Art und Weise weiterzuentwickeln, die Fortschritt und Nachhaltigkeit miteinander vereine. „Im besten Fall entwickelt sich die Mongolei weiter als Demokratie, die es schafft, zwischen den mächtigen Nachbarn China und Russland zu existieren und weiterhin weitestgehend unabhängig zu wirtschaften und zu handeln. Ich glaube, die mongolische Gesellschaft ist in der Lage, eine nachhaltige Transformation durchzuführen.“

Kohlebergbau in der Mongolei von oben.

Irreversible Schäden?

Die Wirtschaft der Mongolei hängt stark von den Bodenschätzen des Landes ab. Ein Großteil des Bruttoinlandsprodukts wird durch Kohlebergbau, Ölförderung und Kupferbergbau erwirtschaftet.

© IMAGO VCG
Prof. Dr. Lukas Lehnert

Lukas Lehnert

Der Geograph ist mit seiner Arbeitsgruppe bei MORE STEP unter anderem für die Fernerkundung mittels Drohnen und Satellitendaten verantwortlich. | © Maik Dobbermann

Im schlimmsten vorstellbaren Fall würden große Kohle- und Erdölkonzerne das Land unter sich aufteilen und es ausbeuten. Was das konkret bedeuten würde, lässt ein Blick über die Landesgrenze nach China erahnen. Dort befindet sich die Innere Mongolei, wo die chinesische Regierung eine massive Intensivierung der Landwirtschaft forciert hat, was enorme Umweltprobleme nach sich zog. „Mittlerweile steuert die chinesische Regierung gegen und versucht, den ökologischen Status wieder zu verbessern. Die entstandenen Schäden sind teilweise aber irreversibel.“ Insofern sei die chinesische Steppe eine Warnung für die Mongolei, diesen Pfad nicht einzuschlagen.

Lukas Lehnert ist Professor für Physische Geographie und Umweltfernerkundung an der LMU. MORE STEP – Mobilität im Wandel: Nachhaltige Entwicklung des Mongolischen Steppenökosystems ist ein kollaboratives und interdisziplinäres Forschungsprojekt mongolischer und deutscher Partner, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird. Das Hauptziel ist, Sozial- und Naturwissenschaften zusammenzubringen, um gesellschaftliche Treiber zu identifizieren, die zu einem ökologischen Kipppunkt im Ökosystem der mongolischen Steppe führen könnten.

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