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Domestikation: Genetischer Flaschenhals der Schafhaltung

15.04.2024

Die genetische Vielfalt der Schafe nahm nicht schon in der Anfangszeit der Domestikation ab, sondern erst im späteren Verlauf der Jungsteinzeit.

Heutige Hausschafe in Eurasien gehören vorwiegend zu nur zwei vom Muttertier vererbten Mutterlinien. Frühere Forschungen gingen davon aus, dass die genetische Vielfalt bereits in der Frühphase der Domestikation des Wildschafes rapide abnahm. Die Untersuchung vollständiger mitochondrialer Genome aus dem frühen Domestikationsort Aşıklı Höyük in Zentralanatolien, der zwischen 10.300 und 9.300 Jahre besiedelt war, widerlegt diese Annahme: Trotz eines Jahrtausends menschlicher Einflussnahme auf die Schafhaltung und -zucht blieb die mitogenomische Diversität unverändert hoch, wobei fünf Mutterlinien nachgewiesen wurden, darunter eine bisher unbekannte Linie. Die anhaltend hohe Vielfalt der Mutterlinien, die in den 1.000 Jahren der Schafhaltung beobachtet wurde, war für die Forschenden unerwartet.

Heutige Nachfahren der ersten Hausschafe Zentralanatoliens.

Heutige Nachfahren der ersten Hausschafe Zentralanatoliens. Auch heute noch basiert die Landwirtschaft dieser Region zu einem großen Teil auf großen Schafsherden. | © Nadja Pöllath (SNSB-SPM)

„In Aşıklı Höyük gab es sowohl Schafe, die von den Siedlungsbewohnern gehalten, als auch solche, die gejagt wurden. Wir nehmen an, dass gelegentlich die Schafherden bei Bedarf durch einheimische Wildschafe ergänzt wurden, z.B. um Verluste durch Krankheiten oder Stress in Gefangenschaft auszugleichen“, interpretiert Professor Joris Peters, Staatssammlung für Paläoanatomie (SNSB-SPM) und Institut für Paläoanatomie der LMU, die Ergebnisse der Studie, die kürzlich im Fachmagazin Science Advances erschienen ist. Gut möglich sei auch, dass man Schafe auch weiträumig ausgetauscht habe. „Eine mögliche Parallele dazu findet sich beim Import bestimmter Getreidepflanzen nach Zentralanatolien, die in Südostanatolien heimisch sind.“

Die verschiedenen Mutterlinien kann man sich vorstellen wie die Äste eines Stammbaums. Tiere, die einer bestimmten Linie angehören, weisen vergleichsweise geringe Variationen in ihrem mitochondrialen Erbgut auf, da sie von einer gemeinsamen Vorfahrin abstammen. Heute überwiegt bei Schafen in Europa Linie B und in Ostasien Linie A. Folglich nahm die mitogenomische Vielfalt später im Domestizierungsprozess ab, als sich die Schafzucht während des Neolithikums über ihre ursprüngliche Domestizierungsregion hinaus ausbreitete.

Um dem nachzugehen, untersuchte das internationale Forscherteam um Joris Peters die matrilineare Zugehörigkeit und die phylogenetischen Beziehungen von 629 modernen und historischen Schafen in ganz Eurasien. Beteiligt waren auch Ivica Medugorac, LMU-Professor für Populationsgenomik der Tiere, und Professor Dan Bradley vom Trinity College in Dublin.

Zufall und Notwendigkeit

Der Vergleich der Ergebnisse von Aşıklı Höyük mit altDNA-Signaturen in archäologischen Schafsknochen aus späteren Siedlungen in Anatolien und den umliegenden Regionen sowie in Europa und Mittelasien zeigt deutlich, dass die mitogenomische Vielfalt im 9. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung deutlich abnahm. Eine Folge davon ist die bereits erwähnte Dominanz der Mutterlinie B in Europa. „Wir können heute davon ausgehen, dass diese Entwicklung auf einen sogenannten ‚Flaschenhals‘ zurückzuführen ist“, sagt Peters. Dieser trat später in der Jungsteinzeit auf, als sich die Schafzucht nach der frühen Domestizierung der Art über die natürliche Verbreitung der Wildschafe hinaus ausbreitete. Der Flaschenhals hänge wahrscheinlich mit sogenannten Gründereffekten zusammen: „Im Zuge der Ausbreitung der Tierhaltung in Richtung Europa wurden nach und nach kleinere Herden aus einer bereits stark reduzierten Schafpopulation entfernt."

Besonders faszinierend finden die Forschenden die Erkenntnisse, die durch die Integration von genetischen und archäologischen Datensätzen gewonnen werden konnten. Zusammen mit den zahlreichen anderen Mosaiksteinen, die Zooarchäologen, Archäologen und Genetiker über Jahrzehnte hinweg gesammelt haben, ergibt sich nun ein zunehmend kohärentes Bild menschlicher kultureller Anpassungen seit der letzten Eiszeit. „Studien wie diese zeigen, dass die Domestizierung von Tieren nicht im Sinne eines generationenübergreifenden Plans zu verstehen ist, sondern als ein Prozess des Zufalls und der Notwendigkeit, der unsere jüngere Kulturgeschichte maßgeblich geprägt hat und uns bis heute begleitet", erklärt Ivica Medugorac.

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