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Zeitreise ins Klassenzimmer von vor 2000 Jahren

14.08.2025

Gastprofessorin Eleanor Dickey hat mit der Antiken Schule ein Projekt ins Leben gerufen, das zeigt, wie Unterricht vor 2000 Jahren funktionierte. Dabei geht es nicht nur um Tinte und Wachstafeln, sondern auch darum, sein eigenes Tempo zu finden.

Vor der Türe des Griechensaals liegt ein toter Gigant, das Schwert noch in der Hand, die Muskeln gewölbt, theatralisch posierend – eine Skulptur aus dem antiken Rom, ausgestellt im Museum für Abgüsse klassischer Bildwerke. Hinter der Türe wuseln 21 sehr lebendige Schülerinnen und Schüler in Tunika und Lederschuhen herum. Eigentlich diskutieren LMU-Studierende hier über Monumente griechischer Kunstgeschichte oder lernen etwas über archäologische Feldforschung. Heute Mittag gehört der Saal allerdings den fünften und sechsten Schulklassen des Gymnasiums Starnberg. Innerhalb von zwei Stunden erleben sie, wie Schule vor fast 2000 Jahren funktionierte, wie sie roch, was für Fächer es gab, wie gerechnet, was gelesen wurde: Sprüche von Diogenes, Fabeln von Äsop, antike Tinte und alte Rechenbretter. „Man taucht richtig ein”, sagt Elisabeth Steutzger, Latein- und Geschichtslehrerin aus Starnberg. Sie ist heute extra mit ihren Schülerinnen und Schülern nach München gefahren. „Wir haben es Zeitreise genannt”, sagt Steutzger.

Die Antike Schule ist eine Erfindung von Prof. Eleanor Dickey, Gastprofessorin für Kulturgeschichte des Altertums am Münchner Zentrum für Antike Welten der LMU. Der Unterricht basiert auf Dickeys Forschungen zum Werk „The Colloquia of the Hermeneumata Pseudodositheana”: Handbücher, die den alten Griechen und Römern vor tausenden von Jahren helfen sollten, sich in der Sprache des jeweils anderen zurechtzufinden. Der „Ancient Schoolroom” war in Großbritannien schon ein voller Erfolg, jetzt importierte Dickey ihn für eine Woche von Reading nach München und brachte dafür 85 selbstgenähte Tuniken und 52 Paar Lederschuhe mit. „Der Zoll hat ein paar Probleme gemacht”, sagt Dickey grinsend, während sie einen durch Laken abgetrennten Raum innerhalb des Griechensaals betritt. Hier darf nur rein, wer die klassische römische Alltagskleidung trägt, denn innendrin beginnt das Klassenzimmer des griechisch-römischen Ägypten aus der Zeit des vierten Jahrhunderts nach Christus.

Schreiben wie im alten Rom und Griechenland

Einige Schulkinder sitzen im Schneidersitz, andere räkeln sich am Boden oder gehen von Station zu Station. Die ein oder andere Jeans blitzt unter der locker fallenden Tunika aus Baumwolle hervor, die Mädchen haben sich noch ein Band um die Hüfte oder ins Haar gebunden. „Sehr gemütlich, nur die Schuhe drücken ein bisschen”, sagt ein Schüler zu seinem Outfit. Er sitzt mit einem Mitschüler gerade bei der Diktat-Station. „Are you ready?”, fragt er, dann liest er langsam vor: „Jemand kam zu Diogenes mit der Nachricht, der und der redet schlecht über dich.” Sein Mitschüler hat gerade noch säuberlich Linien in sein schwarzes Wachstäfelchen gezogen, jetzt ritzt er mit seinem Holzgriffel die Sätze ein. Ganz so einfach ist es aber dann doch nicht, weder das lesen noch das schreiben, denn damals gab es keine Worttrennung und nur Großbuchstaben, das Ganze sieht aus Schülersicht also so aus: „JEMANDKAMZUDIOGENESMITDERNACHRICHTDERUNDDERREDETSCHLECHTÜBERDICH.”

Für den überwiegenden Teil der Menschheitsgeschichte, erklärt Dickey, hätte man tatsächlich so gelesen und geschrieben. Für die Schülerinnen und Schüler sei das eine ganz andere Art und Weise, über Wörter und Sprache nachzudenken. Die beiden Jungs sind mittlerweile fertig mit der Diktat-Aufgabe. „Dann trage vor, oh edler Sklave”, sagt der eine jetzt zum anderen.

Schülerinnen und Schüler beim antiken Schreibunterricht.

Antike Texte lebendig erleben

Nebenan starrt eine Gruppe aus fünf Schülerinnen und Schülern auf drei verschiedene Mengen an Großbuchstaben, die in roter Schrift auf ein Laken gezeichnet wurden, eng aneinandergereiht, wieder ohne Worttrennung. Es handelt sich um drei Fabeln des griechischen Dichters Äsop: „Die Gans, die goldene Eier legt”; „Die Schildkröte und der Hase”; „Der Hund und das Stück Fleisch”. Die Schülerinnen und Schüler können sich eine Fabel auswählen, um sie dann mit einem Schreibrohr aus Schilf (calamus) und antiker Tinte auf einen Dachziegel zu schreiben. Historisch korrekter wären Scherben aus Ton (ostraka) gewesen, erklärt Dickey, eine Kollegin hatte aber gerade Ziegel zu verschenken. Die antike Tinte haben Dickey und ihre Mitarbeiterinnen selbst zusammengemischt, aus Lampenschwarz, Gummi arabicum und Wasser, wie im Alten Ägypten. „Stinkt irgendwie ein bisschen”, sagt eine Schülerin, während sie eine Stelle mit ihrem Daumen ausbessert, der schon ganz schwarz gefärbt ist. „Das Tintending ist cool”, sagt ein anderer. Er gibt auch gleich noch einen Tipp mit: „Nimm die Geschichte mit der Schildkröte, die Goldgans ist so lang.” Sind die Schülerinnen und Schüler fertig, tragen sie ihre Ziegel zu LMU-Studentinnen, die jede Aufgabe kontrollieren, ermutigen, helfen.

„Habt ihr das mit dem Streit verstanden?”, fragt eine Geschichtsstudentin jetzt zwei Schülerinnen, die mit einer Papyrusrolle vor ihr stehen, auf der ein Teil von Homers Epos „Ilias” geschrieben steht. Der Text, erklärt die Studentin, sei auch für die Schulklassen im antiken Griechenland schon unglaublich alt gewesen, „er soll ein archaisches Gefühl vermitteln”, sagt sie. Generell: Jede Station zeigt sehr detailliert nach, wie die damaligen Schulkinder unterrichtet wurden, nur das Altgriechische, die damalige Muttersprache, wurde von Dickey für die Gegenwart ins Deutsche übersetzt. So auch eine Art antikes Arbeitsblatt mit zweisprachigen Dialogen, durch das die Schulklassen damals und heute Latein lernen sollen. Am Ende können die Schülerinnen und Schüler ein kleines Schauspiel vortragen. „Das ist eine ganz andere Art eine tote Sprache zu lernen, vor allem, weil sie damals sehr lebendig war”, sagt Dickey.

Individuelles Lernen damals und heute

Ihre Frau unterrichtet in einer anderen Ecke des Raumes währenddessen das römische Zahlensystem. Philomen Probert ist Professorin für klassische Philologie und Linguistik an der Universität Oxford und hat Dickey nach Deutschland begleitet. Vor ihr liegt eine Schüssel mit Kaffeebohnen und mit roten Linien unterteilte Tafeln, darauf die römischen Ziffern. Probert zeigt den Kindern, wie das System funktioniert, lässt sie unterschiedliche Zahlen legen. Die Zwölf bedeutet zum Beispiel: eine Bohne auf die Ziffer X, zwei auf die Ziffer I. Addiert man jetzt die Zahl 17 dazu, kann man das Kopfrechnen sein lassen, „es ist besser, wenn man es nicht tut”, sagt Probert, die Kaffeebohnen dazuzulegen reicht. Eine Bohne kommt auf die Ziffer X, eine auf die Ziffer V, zwei kommen auf die Ziffer I. „Jetzt könnt ihr ganz einfach zählen”, sagt Probert. Den Bohnen hinterher.

Dickey beobachtet die Schülerinnen und Schüler vom Rand aus, sie ist glücklich, dass Schulklassen jetzt auch in Deutschland erleben können, was ihr bei dem Projekt mit am besten gefallen hat. „Der Unterricht war damals sehr individuell“, sagt sie. Man hätte darüber nachgedacht, wie alt das Kind sei, was für Interessen, Talente und Erfahrungen es hat. Jedes Kind durfte in seinem Tempo lernen und arbeiten. Klar wäre das heute schwierig zu leisten, sagt Dickey, aber es wäre schön, wenn es auch heute ab und zu gelingen würde. Damit jedes Kind das bekommen kann, was es wirklich braucht.

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