153 Formen des Nichtseins - Ein Trauma-Sujet?
Essay von Lena Kristin Wittland zur Poetikvorlesung von Slata Roschal 2024
Essay von Lena Kristin Wittland zur Poetikvorlesung von Slata Roschal 2024
“Who is our representative character?” [1], fragt Parul Seghal in ihrem Essay ‘The Case against the Trauma Plot’, der im Dezember 2021 in der The New Yorker erschien. Doch was ist nach ihrer Meinung heute repräsentativ für unsere Literatur? Das beantwortet Seghal, indem sie zunächst eine charakteristische Protagonistin beschreibt:
„[She´s s]elf-entranced, withholding, giving off a fragrance of unspecifed damage. Stalled, confusing to others, prone to sudden silences and jumpy responsiveness. Something gnaws at her, keeps her solitary and opaque, until there’s a sudden rip in her composure and her history comes spilling out, in confession or in flashback.” [2]
Texte und Medienproduktionen die unter anderem diese Figurenzeichnung nutzen, bezeichnet sie als ‚Trauma-Plot‘ und beschreibt dessen Stil und Inhalte wie folgt:
„Frame [the story] with a bad romance between two characters and their discordant baggage. Nest it in an epic of diaspora; reënvision the Western, or the novel of passing. Fill it with ghosts. Tell it in a modernist sensory rush with the punctuation falling away. Set it among nine perfect strangers. In fiction, our protagonist will often go unnamed […].“ [3]
Eine schwierige Liebe aufgrund des ‘Vergangenheits-Rucksacks‘? Eine Geschichte im Kontext von Flucht, Migration und Verstreuung? Die Wiedergabe einer modernen Reizüberflutung, die durch fehlende Interpunktion ausgedrückt wird? Eines ist wohl klar: hätte Seghal Slata Roschals Debütroman 153 Formen des Nichtseins in den Händen, würde sie wohl wissend nicken und ihn ohne weiteres auf den Stapel der Trauma-Plot Geschichten legen. Doch, so meine These, geht die künstlerische Umsetzung des Traumathemas im Text bei Roschal noch über die bereits von Seghal thematisierten Ebenen des Erzählens vom Trauma [4] sowie des traumatisierten Erzählens [5] hinaus und ist zudem gestaltgebend für die räumliche Ausarbeitung der erzählten Welt.
Da nach Lotmann „Raumgestaltung [als] eine Sprache, die die anderen, nichträumlichen Relationen des Textes ausdrückt“, gelesen werden kann, soll die Betrachtung der Räumlichkeit im Kontext von Lotmanns Sujetbegriff geschehen. Diesem folgend setzt sich das Sujet aus einer erzählten Welt bestehend aus „zwei komplementären Untermengen“, der nur für den Helden überschreitbaren Grenze zwischen diesen sowie eben jenem Helden zusammen.[6] Doch wie gestaltet sich jene Szenerie in den 153 Formen? Gibt es klare Grenzen und Grenzüberschreitungen? Inwiefern ist eben jenes Grenzgeschehen traumatisch ausgestaltet? Und ließe sich womöglich auf Basis der Topografie auch von einem ‚Trauma-Sujet‘ sprechen?
Eine prominente Thematisierung einer Grenze findet sich im 16. Kapitel, in dem sich die Protagonistin in einem Hotelzimmer befindet, das sich scheinbar „von innen Verriegeln“ lässt und so mittels einem „kleinen Riegel [...] eine Spur von Privatsphäre, Sicherheit und Intimleben“ [7] ermöglicht. Diese Möglichkeit, den intimen Raum von einem öffentlichen Raum abzugrenzen, wird jedoch sogleich unterlaufen. Als Ksenia „breitbeinig [...], ohne Strumpfhose“, sprich in einer auf Privatsphäre vertrauenden Position, auf dem Bett liegt, dringt, ohne auf Erlaubnis zu warten, eine Putzfrau ein und entlarvt den Riegel als „eine optische Täuschung“ (FDN, S. 19). Doch nicht nur die Tür, sondern auch die Wand entpuppt sich bald darauf als vermeintliche Grenze, sind doch die Geräusche im Nebenzimmer eins zu eins nachzuverfolgen. Ksenia hört, wie sich der Zimmernachbar übergibt und trägt der gemeinsamen Räumlichkeit Rechnung, indem sie darauffolgend bei sich das Fenster öffnet. Eine Handlung, die bei intakter Grenze im Nachbarzimmer zu verorten wäre. Neben der akustischen und olfaktorischen Verbindung unterlaufen die „Holzdielen, die von [Ksenias] Zimmer direkt in das seine verlaufen“ (FDN, S. 20), die Wand nicht nur subtil-stofflich, sondern ganz konkret physikalisch. „[I]n meinem Zimmer senkt sich eine Diele, in seinem Zimmer hebt sich eine Diele.“, bringt Ksenia dies zum Ausdruck. Bezeichnenderweise in zwei als Parallelismus gestalteten Hauptsätzen, die auch durch einen Punkt voneinander getrennt sein könnten, hier jedoch nur durch ein Komma, eine schwache Grenzziehung, untergliedert werden. So lässt sich festhalten, dass hier eine oppositionelle Räumlichkeit [8] aufgebaut wird, jedoch die räumlichen Grenzen der Wand und Tür sowie durch die Sinneswahrnehmungen auch Ksenias Körpergrenzen sogleich unterlaufen werden. Statt zu einer dynamisierenden Grenzüberschreitung kommt es zu einer Grenzauflösung, die das Gegenteil von Dynamik auslöst: Ksenia verharrt in ihrem Zimmer und bereut jedes aktive Handeln, da es, ob der nicht intakten Grenzen, ihre Intimsphäre offenbart.
In noch eindeutigerer traumatischer Weise findet sich eine Grenzüberschreitung im 121ten Kapitel. Ksenia träumt, sie müsse mit ihren Eltern zu einer Versammlung der Zeugen Jehovas, wenngleich sie „eigentlich nicht mehr dazugehör[t]“ (FDN, S. 136). Sie, die mit Eltern und Bruder unterwegs zum Königreichssaal ist, nimmt Reißaus und rennt stattdessen „in ein riesiges Kinogebäude“ (FDN, S. 138). In einer kafkaesken Szenerie läuft sie „durch die Flure und Treppen“ (FDN, S. 138), verfolgt von ihren Familienangehörigen, die sie trotz einer Tür in einer dunklen Abstellkammer finden. Erneut ist Ksenia in einem begrenzten Raum, erneut sichert sie die Raumgrenze zwischen Sicherheit und Gefahr, diesmal nicht mit einem Riegel, sondern, indem sie die Klinke hält. Und erneut wird nicht nur die räumliche, sondern auch ihre Körpergrenze überschritten: „[...] durch den Spalt zwängen sich Hände und berühren mich versehentlich zwischen den Beinen, dann nochmal, machen es dann absichtlich, durch den Spalt, freuen sich darüber, kitzeln und lachen ein bisschen, ich kann nicht ausweichen, keiner sieht es, und meine Hände pressen die Tür gegen diese Hände.“ (FDN, S. 138) Auf verstörende Weise wird hier ein sexueller Missbrauch, die wohl bestürzendste Grenzüberschreitung, auf eine räumliche Szenerie umgelegt. Der Spalt changiert in seiner Zuweisung zur Tür oder zum weiblichen Geschlechtsorgan, das räumliche Eindringen wird zum sexuellen Akt, Körper- und Raumgrenzen gehen ineinander über.
Zuletzt soll noch das zwölfte Kapitel betrachtet werden, da hier direkt eingangs die besondere Räumlichkeit des Geschehens ins Zentrum gerückt wird. “Wir waren in einer Ferienwohnung im Erdgeschoss eines Schweizer Bauernhauses, jeder hatte sein eigenes Zimmer [...]“ (FDN, S. 17). Doch diese Urlaubsruhe ist plötzlich beendet, denn inmitten jener Szenerie stößt Ksenias Mutter mit einer Blase am Fuß an eine Tür, was eine regelrechte „Blutwucht“ auslöst, der nicht mit einem Pflaster, sondern nur noch mit einem Verband Herr zu werden ist. Während ihr Vater daraufhin von einem Raum zum nächsten „durch die Wohnung“ rennt und Verbandsmaterial sucht, wirft Ksenia nur „einen Blick ins Badezimmer“ in dem sich die Mutter befindet und geht „dann schnell auf [ihr] eigenes Zimmer“, wobei ihr Vater wütend auf ihr „gleichgültiges Gesicht“ reagiert (FDN, S. 17). In dieser Wohnung, in der so eindeutig jedem Familienmitglied ein Raum zugeordnet werden kann, wird offenkundig, dass der Versuch der Mutter, eine Grenze zu überqueren, misslingt. Die Blase, ein augenscheinliches Symptom von Reibung und somit ebenfalls Kennzeichen eines pathologischen Grenzgeschehens, platzt beim Stoß an die Tür und das, was in diesem Moment aufbricht, ist mit einfachen Mitteln nicht mehr zu halten. Was aus diesem misslungenen Versuch der räumlichen Annäherung folgt, ist somit klar: Der Vater, der die Grenzen der Wohnung überschreitet, im Versuch, der aufgerissene Wunde durch einen Verband, anders gesagt eine ‚Verbindung‘, zu heilen, scheitert. Das Material zu einer Verbindung, das „Verbandsmaterial“ (FDN, S. 17) ist unauffindbar. Dies wird an Ksenias Verhalten augenscheinlich, denn sie überschreitet die Grenze zum Raum der Mutter nicht, wirft nur einen Blick hinein, geht dann aber, ohne in die heilende Verbindung zu treten, zurück in ihren Raum und erneuert somit die bestehende Grenzziehung. Im Bewusstsein der bereits an der vorigen Textstelle ausgewiesenen Übertragbarkeit räumlicher Grenzen auf physische und psychische, fördert jene alltäglich erscheinende geplatzte Blase am Fuß die unheilbare familiäre Wunde zutage. In jener Verdrängung des schmerzhaft Bestehenden an die entfernten körperlichen Extremitäten und in eine banale Alltagserzählung, die die fiktive Autorin durch ihre Niederschrift vollzieht, ist auch Ksenias Umgang mit Problemen wiederzuerkennen, der, wie an anderer Stelle ausgesprochen wird, in einem „[zurückschrecken], sie zur Sprache zu bringen“ (FDN, S. 98), einem „[S]chluck[]en“ (FDN, S. 98) und einem „Türen zuschlagen“ (FDN, S. 99}, sprich der Manifestation der problemauslösenden Grenze und Zweiheit, besteht.
In Bezug auf die von Lotmann postulierten verschiedenen Möglichkeiten der Grenzüberschreitung wird deutlich, dass hier definitiv keine revolutionäre, jedoch auch keine restitutive, sprich eine aufgehobene oder scheiternde Überschreitung, vorliegt. Vielmehr scheint die Protagonistin ein Voranschreiten gar nicht aktiv anzustreben. Nichtsdestotrotz werden die topografischen Grenzen zwischen binär semantisierten Räumen im Roman intensiv thematisiert, wobei sich zeigen ließ, dass diese räumlichen Grenzen oft in einem Analogieverhältnis zu Körpergrenzen stehen und die Räumlichkeit hierüber eine traumatische Aufladung erhält. Grenzen werden zumeist abwehrend manifestiert oder in traumatischer Weise unterlaufen und von Nebenfiguren überschritten. Abschließend lässt sich daher festhalten, dass Roschals Gestaltung räumlicher Grenzen in den 153 Formen gleichsam negativ auf Lotmanns Sujetbegriff referiert, indem topografisches Geschehen im Sinne von Grenzüberschreitungen statt zur Dynamisierung der Handlung im umgekehrten Sinne zur Inszenierung einer Erstarrung genutzt wird. So bringen im Sinne eines Anti-Sujets oder ‚Trauma-Sujets‘ gerade die traumatisierenden Grenzüberschreitungen durch Nebenfiguren die Handlungsfähigkeit der Protagonistin und damit auch die Handlung des Romans völlig zum Erliegen, sodass eben jene Weigerung, ein klares Sujet zu zeigen, in Roschals Debütroman selbst zum Sujet zu werden scheint.
Literaturverzeichnis
Slata Roschal: 153 Formen des Nichtseins. Erlangen: 2022 homunculus Verlag.
Martinez, Matias u. Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2009.
Sehgal, Parul: The case against the Trauma Plot. Fiktion writers love it. Filmmakers can’t resist it. But does this trope deepen characters, or flatten them into a set of symptoms? In: The New Yorker, 27.12.2021, online unter: https://www.newyorker.com/magazine/2022/01/03/the-case-against-the-trauma-plot [letzter Zugriff: 11.08.2024]
Fußnoten
[1] Parul Sehgal: The case against the Trauma Plot. Fiktion writers love it. Filmmakers can’t resist it. But does this trope deepen characters, or flatten them into a set of symptoms? In: The New Yorker, 27.12.2021, online unter: https://www.newyorker.com/magazine/2022/01/03/the-case-against-the-trauma-plot [letzter Zugriff: 11.08.2024]
[2] Seghal: Trauma Plot.
[3] Seghal: Trauma Plot.
[4]In Kapitel 52 wird über Gewalt in der Kindheit berichtet, in Kapitel 67 geht es um eine Vergewaltigung und in Kapitel 121 spricht Ksenai sogar aus, es könne sein, dass sie vergewaltigt wurde.
[5] Zum Beispiel über die Auslassungen von Gewaltbegriffen (Kapitel 52), eine fehlende Interpunktion, die beinah durchgehend umgesetzt ist, sowie die fragmentierte Gestaltung des Drucktextes, der gleichsam in 153 Stücke ‚zerrissen‘ ist und somit symptomatisch das Trauma als „experience that overwhelms the mind [and] fragments the memory“ (Seghal: Trauma-Plot) abbildet.
[6] Matias Martinez u. Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2009, S. 159.
[7] Slata Roschal: 153 Formen des Nichtseins. Erlangen: homunculus 2022, S. 19. Im Folgenden wird dieses Werk unter dem Kürzel FDN zitiert.
[8] Im Sinne von intim – öffentlich, sicher – bedrohlich, eigen – fremd.