Der Schulbeginn stellt nach übereinstimmender fachlicher Meinung keinen Nullpunkt dar. Vielmehr gelten bereits erworbene Kenntnisse und Fähigkeiten als besonders relevant und langfristig bedeutsam für den Schriftspracherwerb (z. B. Mehlem, 2024). In diesem Zusammenhang werden seit geraumer Zeit unterschiedliche Vorläuferfähigkeiten diskutiert, darunter u.a. die phonologische Bewusstheit (Goswami & Bryant, 2016; Landerl & Wimmer, 1994; Wimmer et al., 2000), die Benennungsgeschwindigkeit (Araújo et al., 2015; Ennemoser et al., 2012; Landerl et al., 2022) und Sprachkompetenzen (Bushati et al., 2023; Duzy et al., 2013; Ennemoser et al., 2012; Goldammer et al., 2010; Röthlisberger et al., 2021). Diese Vorläuferfähigkeiten wurden bereits in unterschiedlichen Erwerbskontexten als relevante Einflussfaktoren auf die Entwicklung der Lese- und Rechtschreibkompetenzen im ersten Schuljahr identifiziert (z. B. Ennemoser et al., 2012; Goswami & Bryant, 2016; Lindner, 2024; Mayer, 2018).
Eine umfassende Betrachtung der Vorläuferfähigkeiten in einem sprachlich heterogenen Lehr- und Lernkontext unter Berücksichtigung von personenbezogenen Charakteristika und deren Einfluss auf die Entwicklung von Lese- und Rechtschreibkompetenzen blieb bislang allerdings aus.
Deshalb wird unter Berücksichtigung eines heterogenen Spracherwerbskontextes den folgenden Fragen nachgegangen:
(1) Sind die Vorläuferfähigkeiten des Schriftspracherwerbs (phonologische Bewusstheit, Benennungsgeschwindigkeit, Sprachkompetenz) in einem sprachlich heterogenen Lehr- und Lernkontext empirisch trennbar?
(2) Welche Zusammenhänge bestehen zwischen diesen drei Vorläuferfähigkeiten des Schriftspracherwerbs in einem sprachlich heterogenen Kontext?
(3) Welchen Einfluss haben personenbezogene Charakteristika (Geschlecht, Kontaktdauer zum Deutschen, Alter) auf die Vorläuferfähigkeiten des Schriftspracherwerbs (Sprachkompetenz, Benennungsgeschwindigkeit, phonologische Bewusstheit) bei Kindern mit heterogenen Spracherwerbsprofilen?
(4) Haben die personenbezogenen Charakteristika und die Vorläuferfähigkeiten des Schriftspracherwerbs Einfluss auf die Lesekompetenzen (Lesegeschwindigkeit, Wortverständnis, Satzverständnis, Textverständnis) und auf die Rechtschreibkompetenzen (Graphemtreffer) am Ende des 1. Schuljahrs?
(5) Haben die personenbezogenen Charakteristika, die Vorläuferfähigkeiten des Schriftspracherwerbs sowie die Lese- und Rechtschreibkompetenzen am Ende des 1. Schuljahrs Einfluss auf die Lese- und Rechtschreibkompetenzen am Ende des 4. Schuljahrs?
Zur Beantwortung dieser Fragstellungen wurden Daten von N = 212 Kindern aus zwei Einschulungsjahrgängen analysiert. Die Kinder waren zu Schulbeginn durchschnittlich 6 Jahre und 8 Monate alt und wiesen unterschiedliche Spracherwerbsbiografien auf (n = 115 Deutsch als Erstsprache; n = 97 Deutsch als Zweitsprache). Als Diagnoseverfahren kamen zu Beginn der 1. Klasse zur Erfassung der phonologischen Bewusstheit und der Benennungsgeschwindigkeit TEPHOBE (Mayer, 2016) und zur Ermittlung der rezeptiven und produktiven Sprachkompetenzen LiSe-DaZ (Schulz & Tracy, 2011) zum Einsatz. Am Ende des ersten Schuljahres wurde zur Erfassung der Lesekompetenzen die WLLP (Schneider et al., 2011) und ELFE II (Lenhard et al., 2018) sowie der Rechtschreibkompetenzen die HSP (May et al., 2019) herangezogen. Die Auswertung der Daten erfolgt mittels konfirmatorischer Faktorenanalysen, standardisierter bivariater Korrelationen sowie multipler linearer Regressionsmodelle.
In diesem Zuge zeigte sich in konfirmatorischen Faktorenanalysen inklusive genesteter Modellvergleiche, dass sich die Vorläuferfähigkeiten (Sprachkompetenz, Benennungsgeschwindigkeit, phonologische Bewusstheit) empirisch trennen lassen. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass eine längere Kontaktdauer zum Deutschen signifikant mit einer höheren Sprachkompetenz, Benennungsgeschwindigkeit und phonologischen Bewusstheit zusammenhängt. Die phonologische Bewusstheit von Mädchen ist höher ausgeprägt als von Jungen. Darüber hinaus sind eine stärker ausgeprägte phonologische Bewusstheit sowie Benennungsgeschwindigkeit signifikante Prädiktoren für höhere Rechtschreib- und Lesekompetenzen am Ende der 1. Klasse. Für die Lesekompetenz zeigte sich zudem ein positiver Zusammenhang mit der Kontaktdauer zum Deutschen und dem weiblichen Geschlecht.
Aus den Ergebnissen lassen sich Implikationen für die Diagnose und Förderung von Vorläuferfähigkeiten im Anfangsunterricht der Grundschule in (sprachlich) heterogenen Lehr- und Lernkontexten ableiten. In diesem Zuge sollte die (Un-)Möglichkeit der klaren Abgrenzung von Spracherwerbstypen (Deutsch als Erst- vs. Zweitsprache) zur Diskussion gestellt werden.
Zitierte Literatur
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